Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Der Kurfürst im Hanauer Lande. 139 
Großmut üben“. Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus— 
helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ sich aber nur dann 
sichern, wenn die Anarchie des Mautwesens durch die preußische Ordnung 
verdrängt wurde, und vor dem preußischen Zollvereine bebten viele der 
Liberalen fast ebenso scheu zurück wie der Landesherr selber. 
Derweil man dergestalt ratlos verhandelte, zeigte jener § 100 der 
Verfassung schon seine verderbliche Wirkung. Der Kurfürst hatte durch 
Kabinettsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache selbst wie gegen 
die Personen ließ sich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die 
Unierschrift des Kriegsministers Loßberg, und obschon die Vorschriften der 
Verfassung für diesen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, so meinte sich 
gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der besten Juristen des Landes, in 
seinem Gewissen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem 
doch höchstens ein verzeihlicher Formfehler zur Last fiel, wegen Verfassungs- 
bruchs angeklagt werde. In leidenschaftlicher Rede fiel Jordan bei und 
rief wie gewöhnlich den Geist der Verfassung zu Hilfe gegen ihren zweifel- 
haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher. 
Die Bürgergarden von Kassel und Marburg berieten schon unterein- 
ander, wie „die im Finstern schleichende, geifernde Brut gänzlich unter- 
drückt“ und der Kurfürst — aber ohne seine Gräfin — in die Hauptstadt 
zurückgeführt werden solle; eine Adresse von nahezu tausend Kasseler Ein- 
wohnern stellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch 
länger fern bleibe, so verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemütlich- 
keit waren die Hessen schon nahe daran, den Versailler Zug der Pariser 
vom Oktober 1789 zu wiederholen. 
Um ein Ende zu machen, beschloß der Landtag, noch einmal sein Glück 
bei dem grollenden Landesherrn zu versuchen. Gegen Ende August reisten 
abermals ständische Abgesandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen 
ward vorgelassen: Präsident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter, 
der an der Spitze des Obergerichts so viele Jahre hindurch gegen fürst- 
liche Willkür angekämpft hatte. Freimütig und doch ehrfurchtsvoll setzte 
er dem Kurfürsten auseinander, daß der Souverän in der gegen- 
wärtigen Lage mit den Ministern regelmäßig zusammen arbeiten müsse, 
die Gräfin aber in Kassel ihres Lebens schwerlich sicher sei; schließlich 
stellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht 
auf die Regierung. Wilhelm wählte, wie er mußte: er zog die Geliebte 
vor und sendete den Präsidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur- 
prinzen, dem nach der Verfassung die Regentschaft gebührte, weiter zu 
verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen 
Sitzung berufen, und mit Zustimmung des Landtags kam nunmehr ein 
Gesetz zustande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige 
Besorgung aller Regierungsgeschäfte übertrug, bis der Kurfürst seine 
bleibende Residenz wieder in Kassel nehmen würde.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.