Der Kurfürst im Hanauer Lande. 139
Großmut üben“. Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus—
helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ sich aber nur dann
sichern, wenn die Anarchie des Mautwesens durch die preußische Ordnung
verdrängt wurde, und vor dem preußischen Zollvereine bebten viele der
Liberalen fast ebenso scheu zurück wie der Landesherr selber.
Derweil man dergestalt ratlos verhandelte, zeigte jener § 100 der
Verfassung schon seine verderbliche Wirkung. Der Kurfürst hatte durch
Kabinettsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache selbst wie gegen
die Personen ließ sich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die
Unierschrift des Kriegsministers Loßberg, und obschon die Vorschriften der
Verfassung für diesen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, so meinte sich
gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der besten Juristen des Landes, in
seinem Gewissen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem
doch höchstens ein verzeihlicher Formfehler zur Last fiel, wegen Verfassungs-
bruchs angeklagt werde. In leidenschaftlicher Rede fiel Jordan bei und
rief wie gewöhnlich den Geist der Verfassung zu Hilfe gegen ihren zweifel-
haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher.
Die Bürgergarden von Kassel und Marburg berieten schon unterein-
ander, wie „die im Finstern schleichende, geifernde Brut gänzlich unter-
drückt“ und der Kurfürst — aber ohne seine Gräfin — in die Hauptstadt
zurückgeführt werden solle; eine Adresse von nahezu tausend Kasseler Ein-
wohnern stellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch
länger fern bleibe, so verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemütlich-
keit waren die Hessen schon nahe daran, den Versailler Zug der Pariser
vom Oktober 1789 zu wiederholen.
Um ein Ende zu machen, beschloß der Landtag, noch einmal sein Glück
bei dem grollenden Landesherrn zu versuchen. Gegen Ende August reisten
abermals ständische Abgesandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen
ward vorgelassen: Präsident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter,
der an der Spitze des Obergerichts so viele Jahre hindurch gegen fürst-
liche Willkür angekämpft hatte. Freimütig und doch ehrfurchtsvoll setzte
er dem Kurfürsten auseinander, daß der Souverän in der gegen-
wärtigen Lage mit den Ministern regelmäßig zusammen arbeiten müsse,
die Gräfin aber in Kassel ihres Lebens schwerlich sicher sei; schließlich
stellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht
auf die Regierung. Wilhelm wählte, wie er mußte: er zog die Geliebte
vor und sendete den Präsidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur-
prinzen, dem nach der Verfassung die Regentschaft gebührte, weiter zu
verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen
Sitzung berufen, und mit Zustimmung des Landtags kam nunmehr ein
Gesetz zustande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige
Besorgung aller Regierungsgeschäfte übertrug, bis der Kurfürst seine
bleibende Residenz wieder in Kassel nehmen würde.