Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

232 IV. 4. Landtage und Feste in Oberdeutschland. 
Von Stunde zu Stunde erhitzten sich die Köpfe; eine Flut von 
Zornreden ergoß sich über die Karlsbader „Ordonnanzen“. Die französische 
Verbildung des Liberalismus bekundete sich auch in seiner verwelschten 
Sprache: wie die Karlsbader Beschlüsse Ordonnanzen hießen, so nannte 
man Welckers Antrag eine „Motion“ und die Verbesserungen „Amen— 
dements“; nach Pariser Brauch donnerten die Redner wider die mark— 
losen „Justemilianer“ und warnten die Regierung vor dem Schicksale des 
„deplorablen Ministeriums“ Polignac. Der Geistliche Rat Herr gab 
der Preßfreiheit sogar den kirchlichen Segen: er nannte sie „eine Anstalt 
Gottes, die uns helfen wird zu alledem, was wir für Zeit, Tod und 
Ewigkeit notwendig haben.“ Da die anonymen Zeitungsschreiber der 
liberalen Doktrin wie Volkstribunen erschienen, so sollten sie auch nur 
durch die freie Stimme des Volksgewissens, durch Geschworene gerichtet 
werden. Selbst Duttlinger, der ruhigste unter den Führern der Oppo— 
sition, ließ sich von der allgemeinen Aufregung anstecken; der deutsche 
Rechtslehrer schämte sich nicht, die Schwurgerichte kurzerhand über das 
Gesetz zu stellen und die schmähliche Parteilichkeit, welche die französischen 
Geschworenen in allen politischen Prozessen betätigten, den rechtschaffenen 
Germanen als ein Muster anzupreisen: „Geschworene beschützen die Preß- 
freiheit gegen zu strenge und unnatürliche Gesetze durch ihr einfaches: 
Nichtschuldig!“ Endlich mißbrauchte die Kammer gar ihr Steuerbewilli- 
gungsrecht zu einer verfassungswidrigen Drohungs sie beschloß, das Budget 
erst dann zu bewilligen, wenn die Regierung das Preßgesetz nebst einigen 
anderen Gesetzentwürfen vorgelegt hätte. 
Welch eine Lage für den wohlmeinenden Minister! Winter hielt die 
Zensur für einen gemeinschädlichen Mißbrauch, aber wie durfte er sie 
beseitigen, den Vorschriften der Bundesgesetze und der Landesverfassung 
geradeswegs zuwider? Der Großherzog stand, wenngleich er den Kammern 
gern ein Stück Weges entgegenkam, mit seinen Herzensneigungen durch- 
aus auf seiten der Ostmächte. So oft die Russen, unter dem Wehge- 
schrei der Liberalen einen Sieg erfochten, ließ er dem König von Preu- 
ßen durch Otterstedt seinen Glückwunsch aussprechen.“') Nimmermehr 
wollte er sich gegen den Deutschen Bund auflehnen. Mit Badens Zu- 
stimmung hatte der Bundestag im vorigen Herbst den Regierungen die 
strenge Handhabung der Zensur anempfohlen, jetzt schritt er zu neuen 
Beschlüssen gleichen Sinnes; an die Milderung oder gar die Aufhebung 
der Karlsbader Gesetze wagte keine der Bundesregierungen zu denken 
in einem Augenblicke, da halb Deutschland durch Unruhen heimgesucht 
wurde. Aus Darmstadt, Butzbach, Tübingen und anderen süddeutschen 
Städten kamen Adressen, welche die Bundesversammlung baten, dem 
Blutvergießen in Polen Einhalt zu tun, damit die Cholera nicht nach 
  
*) Otterstedts Berichte, 18. März, 6. Juni 1831.
	        
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