Friedrich v. Gagern. 259
auch der Gedanke der preußischen Hegemonie der ungeheuren Mehrzahl
der Süddeutschen noch erscheinen mochte, in ihrer eigenartigen Fassung
konnte diese Schrift doch nur auf oberdeutschem Boden entstehen, daher
ward sie auch von den Schwaben freundlich aufgenommen. In dem
Gegensatze der konstitutionellen und der absolutistischen Gesinnung ging
der Parteikampf der Zeit noch gänzlich auf; und da Pfizer die Mängel
der bestehenden Zustände schonungslos rügte, auch seine konstitutionelle Ge—
sinnung nicht verbarg, so betrachteten ihn die schwäbischen Liberalen als
ihren Mann. Der preußische Gesandte in Stuttgart hingegen, Salviati,
ein hartköpfiger Konservativer, behandelte in seinen Berichten den glühen-
den Bewunderer Preußens zwar achtungsvoll, aber als einen erklärten
Gegner. Im Norden fand Pfizers Buch viele dankbare Leser. Die jungen
Preußen, die von der Kaiserkrone der Hohenzollern träumten, fühlten sich
durch die Geschichtsphilosophie des Schwaben in ihren stillen Hoffnungen
bestärkt; Jens Uwe Lornsen und manche andere Politiker der norddeutschen
Kleinstaaten wurden durch ihn gezwungen, in sich zu gehen, ihre aner-
zogenen partikularistischen Vorurteile abzulegen, die Machtverhältnisse der
Bundespolitik ruhiger zu überdenken.
Lange vor dem Erscheinen des Pfizerschen Briefwechsels hatte schon
ein anderer Süddeutscher, allerdings nur im vertrauten Kreise, verwandte
Ideen ausgesprochen. Friedrich von Gagern, der älteste und begabteste
unter den zahlreichen stattlichen Söhnen des Reichsfreiherrn Hans, war
auf den Rat seines Vaters in niederländischen Kriegsdienst getreten
und mußte nun am eigenen Leibe erfahren, wie gründlich der phantasie-
reiche alte Reichspatriot sich über den deutschen Charakter seiner Nieder-
lande getäuscht hatte. Ein Fremder lebte er unter Fremden, ganz abge-
trennt von dem leidenschaftlich geliebten großen Vaterlande. Wenn er auf
seinen Urlaubsreisen das heimatliche Hornau besuchte, fand er die
Brüder um den redseligen Vater versammelt und tauschte mit ihnen
politische Gedanken aus, so daß man im hessischen Lande bald von der
Familienpolitik der Gagern sprach. Der alte Hans war seiner poli-
tischen Vielgeschäftigkeit treu geblieben. Mit gewohntem Selbstgefühl bot
er, als der belgische Aufstand ausbrach, dem niederländischen Hofe und
dem Brüsseler Kongresse ses lumières zur Vermittlung an;*') dann
schriftstellerte er fleißig, bereiste die Höfe, verkehrte viel mit seinem
freundschaftlichen Gegner, dem Freiherrn vom Stein, und errichtete dem
großen Toten nachher, zuerst in Deutschland, ein literarisches Denkmal,
indem er dessen Briefe herausgab; in der Darmstädter ersten Kammer
hielt er zuweilen eine geistreich abspringende Rede über Fragen der
großen Politik. Einer seiner Söhne, Heinrich, errang sich mittlerweile
ein hohes Ansehen unter den Liberalen der zweiten Kammer. So lernte
*) Naglers Bericht, 28. Nov. 1830.