Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

274 IV. 5. Wiederbefestigung der alten Gewalten. 
Was ließ sich nicht alles herauslesen aus dem zweiten Artikel, der den 
Landständen untersagte, die zur Führung einer verfassungsmäßigen Re- 
gierung erforderlichen Mittel zu verweigern! Wie leicht konnte diese Vor- 
schrift zur gänzlichen Vernichtung des ständischen Steuerbewilligungsrechts 
mißbraucht werden, und wie nahe lag dieser Verdacht gerade jetzt, da die 
Höfe so unerbittlich streng gegen die Zeitungen und Vereine auftraten. 
Begreiflich also, daß die liberale Partei die Sechs Artikel, stark übertreibend, 
im gehässigsten Sinne auslegte und wehklagend versicherte: „der Schein- 
konstitutionalismus“ — so lautete die neue Zeitungsphrase — solle in 
die deutschen Verfassungen eingeführt werden. 
Und welch ein grelles Schlaglicht fiel jetzt wieder auf die grundfalsche 
Richtung, welche die Bundespolitik von Anbeginn eingeschlagen hatte! Für 
die Einheit, deren die Nation wie des lieben Brotes bedurfte, für die 
Einheit des Heerwesens und der Handelspolitik tat der Bund gar nichts; 
für sie mußte Preußen mit Umgehung des Bundestags sorgen. Auch in allen 
anderen gemeinnützigen Geschäften zeigte der Bundestag eine schimpfliche 
Trägheit. Soeben erzählte man sich wieder hohnlachend ein neues Stücklein 
aus der Geschichte des Bundesjammers: jahrelang hatte sich eine Kom- 
mission des Bundestags über die Staatsangehörigkeit eines Jägers Lemnitzer 
in Thüringen gestritten; da berichtete endlich der Gesandte Leonhardi, daß 
nicht Preußen oder Reuß, sondern Meiningen den Mann aufzunehmen 
schuldig sei, und fügte die schmerzliche Mitteilung hinzu, der Arme, der 
über dem Gezänk achtzig Jahre alt geworden war, sei leider soeben ge- 
storben.)) Wenn es aber galt, die ständischen Verfassungen, die sich doch 
nach der Eigenart der Landschaften richten mußten, alle über einen Kamm 
zu scheren oder durch den Zwang der Polizei das politische Leben der 
Nation darniederzuhalten, dann entfaltete diese träge Versammlung eine 
fieberische Tätigkeit, dann erließ sie Verbote und Befehle an souveräne 
Fürsten, dann übte sie ungescheut alle die Machtbefugnisse einer Staats- 
gewalt, welche weit über die bescheidenen Rechte eines Staatenbundes hin- 
ausgingen. Vielherrschaft da, wo Einheit not tat, Zentralisation da, wo“ 
der Partikularismus sein gutes Recht hatte — das war der Charakter der 
deutschen Bundespolitik. Da der Bundestag seine Aufgabe so ganz ver- 
kannte, so wurden ihm auch notwendige und gerechtfertigte Sicherheits- 
maßregeln zur Schuld angerechnet; er erschien der Nation nur noch als 
eine kleinlich gehässige Polizeibehörde. 
Die Unzufriedenheit war allgemein. Selbst die Preußen, die sonst 
nach dem Bundestage wenig fragten, zeigten sich unwillig; sie fanden es 
kränkend, daß alle diese neuen Verbote auch für sie, die Königstreuen 
gelten sollten. Am Hofe wehte die Luft seit einigen Monaten schärfer. 
Der König sprach sich über den Lärm der pfälzischen Demagogen sehr 
  
*) Naglers Bericht, 17. Juli 1831.
	        
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