Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Die liberalen Westmächte. 29 
eine wohl angebrachte Grobheit, die den unschuldigen Leuten wie der 
unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermanns klang, und immer blieb 
den Hörern der Eindruck, als ob sie tief in die Falten seines treuen 
Herzens hineingeblickt hätten. 
Schon auf den Bänken der Opposition hatte er mit dem Lächeln 
des Augurs die schmeichelhafte Behauptung ausgesprochen, jedes Mitglied 
des Unterhauses könne sich ein sachverständiges Urteil über die aus— 
wärtige Politik bilden, wenn diese nur ganz ehrlich und offen verfahre. 
Demgemäß betrieb er als Minister eifrig die Anfertigung kunstvoller 
Blaubücher, die von allem etwas, von dem Wesentlichen nichts erzählten, 
so daß jeder Leser der Times sich fortan rühmen durfte, die europäische 
Politik des volkstümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen. 
Gleich Canning wollte Palmerston den Weltfrieden erhalten, um den 
britischen Handel nicht zu verderben; doch gleich seinem Meister wünschte 
er ebenso aufrichtig, daß immer eine sanfte Kriegsgefahr über dem Fest- 
lande schwebte, damit England freie Hand behielt, sein Kolonialreich zu 
erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu besetzen. Vor allem galt 
es, die beiden gefährlichsten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus- 
einander zu halten, und der Geschäftsverstand des bekehrten Torys ent- 
deckte sogleich, wie leicht sich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die 
politischen Leidenschaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet 
konnte die liberale Phrase für Alt-England ein ebenso nützlicher und zu- 
dem weniger kostspieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eisen und 
Kattun. Wenn England sich an den neuen französischen Gewalthaber 
anschloß, um ihn zu stützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn 
diese entente cordiale der Westmächte der aufgeregten Zeit beständig als 
ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die 
Finsternis angepriesen wurde, so war eine ehrliche Verständigung zwischen 
Frankreich und den konservativen Ostmächten unmöglich. 
Dank der Tendenzpolitik Metternichs bestand in der Welt schon 
seit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengesellschaft nicht 
durch die Weltstellung und die auswärtigen Interessen der Mächte be- 
stimmt würde, sondern, wie einst im Zeitalter der Religionskriege, allein 
durch ihre inneren Zustände. Palmerstons Nüchternheit hat an dies 
Märchen der Parteileidenschaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die 
Verfassungskämpfe der Gegenwart bei weitem nicht so tief in die Macht- 
verhältnisse Europas eingriffen, wie einst die kirchlichen Gegensätze. Je- 
doch er bemächtigte sich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete 
ungescheut: dies selbstgenügsame Inselreich, das sich in Jahrhunderten 
niemals um die Verfassung der Nachbarlande gekümmert hatte, sei der 
natürliche Bundesgenosse aller konstitutionellen Staaten. Mit dem Rede- 
schwall eines Marktschreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver- 
gängliche Dauer dieses „auf die besten Grundsätze der menschlichen Natur,
	        
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