Goethes Vermächtnis. 415
der heiligen Geschichte verständliches Leben gibt, so weiß er auch durch
Gretchens Erscheinen die Idee der Liebe künstlerisch zu veranschaulichen.
In der Wiedervereinigung der beiden Liebenden verwirklicht sich der be—
seligende Traum, der, seit Dante ihn zuerst besang, in der christlichen Dich-
tung immer wiederkehrt: wie die irdische Liebe sich zur himmlischen verklärt.
Fausts Unsterbliches wird zum Himmel getragen und die Engel singen:
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen.
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die sel'ge Schar
Mit herzlichem Willkommen.
Also nahm unsere klassische Dichtung bei ihrem letzten Ausgange die beiden
Grundwahrheiten der Reformation wieder auf. In freierer, milderer Form
wiederholte Goethe den kühnen und doch so zermalmend schweren Ausspruch
Martin Luthers „gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann,
sondern ein guter Mann machet gute Werke“, und bekannte sich zugleich
zum Glauben an die erlösende Macht der göttlichen Barmherzigkeit.
Das junge Geschlecht lebte am Tage den Tag; ihm fehlte die Samm-
lung des Geistes, um ein Werk zu würdigen, das über die gerühmte „Jetzt-
zeit“ der Zeitungsschreiber so weit hinausragte. Längst stand ihm fest, daß
die burschikosen Witze von Heines Harzreise mehr bedeuteten als Goethes
Italienische Reise, ein beliebiger Tendenzroman zur Verherrlichung des
freien Weibes mehr als Wilhelm Meister. Nun gar der mystische Schluß
des Gedichts galt den radikalen Poeten für eine frostige Allegorie; denn
so tief waren sie schon von französischer Verbildung angefressen, daß sie
den eigensten Vorzug der protestantischen deutschen Kultur, die Versöhnung
von Freiheit und Frömmigkeit, gar nicht mehr kannten und schlechterdings
nicht begreifen wollten, wie ein starker Geist religiös empfinden könne. Zu
allem Unglück begann nun auch die Zunft der Goetheforscher ihre pedan-
tische Arbeit, eine neue wenig erfreuliche Spielart des deutschen gelehrten
Philistertums. Göschel, Hinrichs, Rötscher und andere Hegelianer, dann
Philologen und Literarhistoriker in langer Reihe bemächtigten sich des Faust,
um in alexandrinischen Kommentaren ihre Auslegungskünste zu zeigen; sie
warfen sich mit Vorliebe auf die schwächsten, die dunkelsten Stellen des
Werkes und suchten zu ergründen, was der alte Herr in seine symbolischen
Andeutungen wohl alles hineingeheimnist habe. So ward die Dichtung
der Jugend vollends verleidet, und lange blieb die Welt der Ansicht, mit
diesem Buche hätte Goethe doch dem Alter seinen Zoll entrichtet.
Die schöpferischen Köpfe der deutschen Kunst haben diese Meinung
nie geteilt; wie oft saß Schinkel in Rauchs Werkstatt, mit dem Faust in
der Hand, um dem dankbaren Freunde den Born neuer künstlerischer An-