Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Goethes Vermächtnis. 415 
der heiligen Geschichte verständliches Leben gibt, so weiß er auch durch 
Gretchens Erscheinen die Idee der Liebe künstlerisch zu veranschaulichen. 
In der Wiedervereinigung der beiden Liebenden verwirklicht sich der be— 
seligende Traum, der, seit Dante ihn zuerst besang, in der christlichen Dich- 
tung immer wiederkehrt: wie die irdische Liebe sich zur himmlischen verklärt. 
Fausts Unsterbliches wird zum Himmel getragen und die Engel singen: 
Gerettet ist das edle Glied 
Der Geisterwelt vom Bösen. 
Wer immer strebend sich bemüht, 
Den können wir erlösen. 
Und hat an ihm die Liebe gar 
Von oben teilgenommen, 
Begegnet ihm die sel'ge Schar 
Mit herzlichem Willkommen. 
Also nahm unsere klassische Dichtung bei ihrem letzten Ausgange die beiden 
Grundwahrheiten der Reformation wieder auf. In freierer, milderer Form 
wiederholte Goethe den kühnen und doch so zermalmend schweren Ausspruch 
Martin Luthers „gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, 
sondern ein guter Mann machet gute Werke“, und bekannte sich zugleich 
zum Glauben an die erlösende Macht der göttlichen Barmherzigkeit. 
Das junge Geschlecht lebte am Tage den Tag; ihm fehlte die Samm- 
lung des Geistes, um ein Werk zu würdigen, das über die gerühmte „Jetzt- 
zeit“ der Zeitungsschreiber so weit hinausragte. Längst stand ihm fest, daß 
die burschikosen Witze von Heines Harzreise mehr bedeuteten als Goethes 
Italienische Reise, ein beliebiger Tendenzroman zur Verherrlichung des 
freien Weibes mehr als Wilhelm Meister. Nun gar der mystische Schluß 
des Gedichts galt den radikalen Poeten für eine frostige Allegorie; denn 
so tief waren sie schon von französischer Verbildung angefressen, daß sie 
den eigensten Vorzug der protestantischen deutschen Kultur, die Versöhnung 
von Freiheit und Frömmigkeit, gar nicht mehr kannten und schlechterdings 
nicht begreifen wollten, wie ein starker Geist religiös empfinden könne. Zu 
allem Unglück begann nun auch die Zunft der Goetheforscher ihre pedan- 
tische Arbeit, eine neue wenig erfreuliche Spielart des deutschen gelehrten 
Philistertums. Göschel, Hinrichs, Rötscher und andere Hegelianer, dann 
Philologen und Literarhistoriker in langer Reihe bemächtigten sich des Faust, 
um in alexandrinischen Kommentaren ihre Auslegungskünste zu zeigen; sie 
warfen sich mit Vorliebe auf die schwächsten, die dunkelsten Stellen des 
Werkes und suchten zu ergründen, was der alte Herr in seine symbolischen 
Andeutungen wohl alles hineingeheimnist habe. So ward die Dichtung 
der Jugend vollends verleidet, und lange blieb die Welt der Ansicht, mit 
diesem Buche hätte Goethe doch dem Alter seinen Zoll entrichtet. 
Die schöpferischen Köpfe der deutschen Kunst haben diese Meinung 
nie geteilt; wie oft saß Schinkel in Rauchs Werkstatt, mit dem Faust in 
der Hand, um dem dankbaren Freunde den Born neuer künstlerischer An-
	        
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