Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

436 IV. 7. Das Junge Deutschland. 
werten Mittelmäßigkeiten, die durch glänzend bestandene Examina zu un— 
berechtigtem Ehrgeiz verleitet werden; er übernahm sich in künstlerischen 
Plänen, denen seine Kraft nicht gewachsen war. Seine stolze junge Frau 
teilte diese unfruchtbaren Qualen einige Jahre hindurch; dann ward ihr 
klar, daß der Mann ihrer Wahl ihren Idealen nicht entsprach, und sie 
vermochte die Enttäuschung nicht zu überleben. Um den Geliebten zu 
schonen und vielleicht auch weil sie selbst in krankhafter Selbsttäuschung be— 
fangen war, verhüllte sie dann die weiblichen Beweggründe ihres Ent— 
schlusses mit starkgeistigen Worten. Gleich den meisten Selbstmorden war 
auch dieser der Schwäche, dem Kleinmut entsprungen. Aber unmöglich 
konnte eine so einfache Erklärung dieser nach nervöser Aufregung lechzen- 
den Zeit genügen. Ganz Berlin betrachtete Charlotte Stieglitz als eine 
Heldin und fand in ihrer Tat, die doch nur menschliches Mitleid ver- 
diente, die Offenbarung eines bisher unerhörten geistigen Opfermutes, 
ein literarisches Märtyrertum, das der Duldergröße der kirchlichen Heiligen 
gleich komme. Selbst Rauch und andere ernste Männer ließen sich von 
der allgemeinen Bewunderung hinreißen; Böckh feierte in griechischen 
Distichen die neue Alkeste, „die zum Heil des Gemahls freiwillig zum 
Hades hinabstieg.“ Theodor Mundt aber, der Freund des Hauses, säumte 
nicht, das gräßliche Ereignis geschäftlich auszubeuten; er setzte der Toten 
sofort ein biographisches Denkmal, riß mit roher Hand alle Schleier hin- 
weg von den stillen Schmerzen dieser tief unseligen Ehe. Dann reiste 
gar noch der Witwer selbst mit dem Dolche seiner Gattin durch Deutsch- 
land und prahlte mit seiner eigenen Schande. In seinen nachgelassenen 
Erinnerungen an Charlotte sagte er: „Ihre letzten Zeilen sind fortan mein 
Diplom, meine höhere Promotion.“ Tiefe Gedanken konnte das Leid in 
diesem Schwächling nicht wachrufen; er ist nach Jahren in Italien als 
ein Reisebeschreiber gewöhnlichen Schlages gestorben. Nicht die verzwei- 
felte Tat selbst, wohl aber der Widerhall, den sie weckte, war ein trau- 
riges Zeichen der Zeit, ein Zeichen verschrobener und durch Überbildung 
unzarter Empfindungen. 
Durch Charlottes Tod wurde Gutzkow zu seinem Romane Wally 
angeregt. Mit diesem Werke — so ließ sich der Chor der jungdeutschen 
Kritik alsbald vernehmen — wagten die neuen Stürmer und Dränger 
ihren kühnsten Wurf, wie einst die alten mit Heinses Ardinghello. Aber 
welch ein beschämender Abstand! Bei Heinse die nackte, unverfälschte 
Natur, lodernde Sinnlichkeit, leibhaftige Gestalten und eine Kunst lieb- 
licher Erzählung, die den Leser über den frevelhaften Inhalt leicht hin- 
wegtäuschte; dazu in den eingewobenen Kunstbetrachtungen manche gute 
Gedanken, würdig einer Zeit, welche an die Schönheit noch begeistert glaubte. 
Bei Gutzkow nur ein Wust von Reflexionen, unreife, altkluge Redereien 
über die Rechte des Fleisches, die Unnatur der Ehe, die Torheit des 
Christentums; dazwischen hinein ein lendenlahmer, gelangweilter Held
	        
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