Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

452 IV. 7. Das Junge Deutschland. 
der Charaktere; auch unsere beiden einzigen klassischen Komödien, Minna 
von Barnhelm und der Zerbrochene Krug, waren Charakterlustspiele. Die 
modernen Franzosen hingegen hatten sich von dem Muster ihres Molieère 
längst abgewendet und suchten die komische Wirkung wesentlich in den über- 
raschenden Situationen. Für den Reiz der Intrige allein vermag sich 
aber das deutsche Gemüt nicht zu erwärmen; daher währte es noch 
lange, bis sich endlich einige Dichter fanden, die von der berechnenden 
Technik und der erfinderischen Gewandtheit der Franzosen lernten, ohne ihre 
nationale Eigenart aufzugeben. Was jetzt an neuen Lustspielen erschien, 
war meist leichte Ware, ebenso flach, nur bei weitem nicht so zierlich wie 
die welschen Vorbilder; fast allein der Wiener Bauernfeld verstand, durch 
die Feinheit seiner Dialoge zu ersetzen, was ihm an Erfindung fehlte. Die 
Hörer indes ließen sich alles bieten, wenn man sie nur in Spannung 
hielt und ihre Skandalsucht etwas reizte. Jenes kunstverständige Parterre, 
das einst jedem Worte Ekhofs oder Ifflands andächtig gelauscht hatte, 
war längst verschwunden; das Theater bildete nicht mehr den Sammelplatz 
für die gute Gesellschaft, die Kenner zogen sich mehr und mehr zurück. 
Seit Schreyvogel vom Wiener Burgtheater vertrieben war, stand keine der 
großen deutschen Bühnen mehr unter strenger sachverständiger Leitung. 
So lockerte sich überall das Zusammenspiel; die Virtuosen wollten allein 
gelten, sie zerstörten durch ihre Gastspielreisen jede Ordnung und lernten 
von den Franzosen sich der Claque oder einer ebenso feilen Kritik zu be- 
dienen. 
Auch die tragische Kunst lag darnieder. Grillparzer zog sich unwirsch 
von der Bühne zurück, seit die Wiener eines seiner Dramen verhöhnt hatten; 
und von den jungdeutschen Poeten besaß noch keiner die sittliche Kraft, sich 
den strengen Regeln des Dramas zu fügen; sie schüttelten alle ihre Einfälle 
leicht aus dem Armel und wollten, wie einst die jungen Romantiker, in 
der bühnengerechten Dichtung nur einen verächtlichen Frondienst sehen. An 
dieser Zuchtlosigkeit ging auch der unglückliche Westfale Christian Grabbe 
früh zu Grunde; er mußte an sich selber erleben, was er einst in einem 
lichten Augenblicke gesungen hatte: „Kraft und Dauer wohnen nur in Be- 
grenzungen.“ Er schwelgte in gräßlichen Bildern und chnischen Witzen, 
Maß und Form blieben seinem umnachteten Sinne fremd; die beiden 
größten Dichtungen der Zeit versuchte er in einem fratzenhaften Drama 
„Don Juan und Faust“ zu vereinigen und zu überbieten. So stürmte er 
dahin, ein glühender deutscher Patriot, ein Verächter alles Platten und 
Gewöhnlichen; keines seiner Dramen war ohne realistis che Kraft, aber jedem 
fehlte der künstlerische Verstand. Als er dann in seinen Lastern unter- 
ging, und selbst Immermanns menschenfreundlicher Beistand diese „Natur 
in Trümmern“ nicht halten konnte, da zeigte sich wieder die Vorliebe der 
Zeit für alles Krankhafte und Verdrehte. Die Feuilletons hoben den Toten 
auf den Schild und verglichen ihn gar mit Heinrich von Kleist, der himmel-
	        
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