Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Grabbe. Raupach. 453 
hoch über ihm stand; sie besprachen geheimnisvoll die Verwandtschaft des 
Genius mit dem Wahnsinn, die doch nur bei dem unfertigen Genie vor- 
handen ist, und niemand gedachte mehr der tiefen Worte des alten Goethe: 
Das Genie gehorcht dem Gesetze am willigsten, weil es begreift, daß Kunst 
nicht Natur ist. 
Da die jungen Talente der Bühne fern blieben, so konnte Ernst 
Raupach ein volles Jahrzehnt hindurch das Berliner Theater beherr- 
schen — ein ernsthafter, schroffer, kalt verständiger Geschäftsmann ohne 
jede dichterische Ader, aber ein geschickter Macher, der durch zahllose dra- 
matische Gedichte „ernster und komischer Gattung“ — wie er sie selber 
bezeichnend nannte — die unersättliche Gier des Publikums nach neuen 
Stoffen mit leidlichem Anstande zu befriedigen wußte. Sein ehrbares 
Wesen und seine tapfere monarchische Gesinnung verschafften ihm die 
Gunst des Hofes, auch Hegel beschützte ihn als einen Widersacher der 
Romantiker. Und was konnte auch aller Romantik schärfer widersprechen 
als diese entsetzlichen sechzehn Hohenstaufen-Tragödien — jedes Stück in 
fünf Akten mit einem Vorspiele — die den Rationalismus Friedrich von 
Raumers noch einmal verwässerten? Mit einer Gründlichkeit, welche den 
Historiker selbst beschämte, wurde der gesamte Tatbestand erschöpft; 
nichts, gar nichts ward den Hörern erlassen; unerbittlich ging es weiter 
bis zu dem letzten Augenblicke, da Konradin sein Haupt auf den Block 
legte, und die Zuschauer mußten dem grausamen Dichter noch danken, 
daß er nicht auch noch den Kopf des letzten Hohenstaufen leibhaftig über 
die Bretter rollen ließ. Namentlich die gereimten Gemeinplätze am Ende 
der Auftritte und Akte zeichneten sich durch zuversichtliche Plattheit aus, und 
noch lange lebte im Gedächtnis der Berliner der Schlußvers: „Das Glück 
war niemals mit den Hohenstaufen.“ Und dennoch wirkten die Stücke; 
die grob gezeichneten Charaktere boten begabten Schauspielern manche 
dankbare Aufgabe, falsche Deklamation verbot sich von selbst in dieser 
nüchternen Welt. Einmal wurde im Schauspielhause sogar der ganze 
Zyklus hintereinander aufgeführt, und ein zahlreiches gebildetes Publikum 
hielt mehr als zwei Wochen lang Abend für Abend standhaft aus, um 
das jambische Kollegium über die Kaisergeschichte des Mittelalters voll- 
ständig zu hören. 
Siebzig Jahre zuvor hatte Lessing die moralisierende Poetik vernichtet; 
jetzt war durch Überbildung der Schönheitssinn wieder so abgestumpft, 
daß Raupach dreist behaupten durfte, der Zweck der Bühne sei das Volk 
zu belehren. Immerhin stellte er durch die Masse seiner Dramen den 
hereinbrechenden Pariser Fluten noch einen Damm entgegen; und das 
nämliche Verdienst erwarb sich auch die gemütliche Schwäbin Charlotte 
Birchpfeiffer. Sie zählte, wie Iffland, zu den dichtenden Schauspielern, 
deren das moderne Theater nicht entbehren kann, weil es für den Haus- 
bedarf aller sieben Wochenabende sorgen muß. Ihre meist nach Novellen
	        
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