552 IV. 8. Stille Jahre.
nungen. Nach dem Kriege hätte niemand für möglich gehalten, daß die
Befreier des Rheinlandes die Gesetzgebung des fremden Eroberers auf die
Dauer bestehen lassen würden. Jetzt galt sie schon fast für unantastbar,
so mächtig hatten die französischen und belgischen Ideen hier im Westen
um sich gegriffen. Die Regierung stand diesen Zeitstimmungen hilflos
gegenüber; denn ein nationales, den Bedürfnissen der modernen Gesell—
schaft genügendes Gesetzbuch konnte, bei dem unfertigen Zustande der deut-
schen Rechtswissenschaft und der Wucht der Parteivorurteile hüben wie
drüben, unmöglich bald zustande kommen. Ammon und die klügeren
rheinischen Juristen sahen wohl ein, daß mindestens ein gemeinsames
Strafgesetzbuch für die Staatseinheit der Monarchie unentbehrlich sei —
wenn nur das rheinische Schwurgericht erhalten bliebe. Die Masse der
Laien aber wollte jetzt gar nichts mehr geändert sehen und selbst den Code
pénal mit allen seinen Härten behalten, weil er rheinisch hieß. Welch ein
Lärm im Provinziallandtage, als einmal die dringend nötige Abänderung
des Wasserrechts und ähnlicher Bestimmungen in Frage kam; sogleich fürch-
teten die Abgeordneten wieder die Herstellung der alten kölnisch-trierischen
Sonderrechte, und nur schwer ließen sie sich beschwichtigen.) Alle Beamte
berichteten übereinstimmend, der Code Napoleon sei „das Lebenselement
der Rheinländer“; selbst Minister Rochow hielt es für bedenklich, die Ge-
fühle der Provinz zu verletzen, obgleich er die französische Gesetzgebung
verabscheute.
In der Tat war der Fortbestand des rheinischen Rechts vollkommen
gerechtfertigt, solange die Krone den Rheinländern zum Ersatze nur ein
veraltetes Gesetzbuch zu bieten hatte. Aber bald wich die Regierung noch
weiter zurück; eingeschüchtert durch den Trotz des rheinischen Partikula-
rismus, ließ sie den Grundgedanken der Gesetzrevision fallen und wagte
kaum noch, die dringend nötige Rechtseinheit der Monarchie mindestens
für die Zukunft vorzubereiten. Kamptz und seine Räte dachten schon an
zwei neue Gesetzbücher, für die östlichen und die westlichen Provinzen; und
der Landtagsabschied vom Jahre 1839 sagte schüchtern: der König behalte
sich vor, unter Mitwirkung der Provinzialstände zu bestimmen, ob dem
revidierten Allgemeinen Landrecht nach seiner Vollendung „auch für die
Rheinprovinz Gültigkeit erteilt werden solle“. Zugleich wurde eine amt-
liche Übersetzung der fünf Codes anbefohlen, und dies kleine, dicke Buch
mit den blauweißroten Streifen auf dem Bandschnitt blieb fortan die
politische Bibel jedes echten Rheinländers. Siegreich in der Verteidigung,
schritten die rheinischen Juristen alsbald zum Angriff vor; immer lauter
und dreister erklang der Ruf: die Rechtseinheit der Monarchie lasse sich
sehr leicht herstellen, wenn der zurückgebliebene Osten dem vorgeschrittenen
*) Bericht des Gf. Anton Stolberg an Lottum, 23. Nov. Kamptz an Lottum,
27. Nov. 1833.