654 IV. 9. Der welfische Staatsstreich.
dem offenbaren Unrecht einen neuen Rechtszustand hervorgehen zu lassen,
daher wurden seine Entschließungen bald unberechenbar. Da sein Staats-
ministerium sich für die Rechtsgültigkeit des Staatsgrundgesetzes ausge-
sprochen hatte, so berief er am nächsten Tage (15. Juli) eine besondere
Kommission, welche die Rechtsfrage von neuem prüfen sollte. Sie be-
stand aus Schele und drei anderen hohen Beamten, Graf Wedel, Jacobi,
von Bothmer, und gelangte nach kaum vierzehn Tagen schon zu dem Schlusse:
der König möge den gegenwärtigen Ständen erklären, daß er unter ge-
wissen Bedingungen das Staatsgrundgesetz annehmen wolle.*) Mit diesem
Rate war dem Welfen wieder nicht gedient. In seinen Gesprächen mit
Schele, der in der Kommission überstimmt worden war, hatte er sich be-
reits einen neuen Plan gebildet: er dachte jetzt die gegenwärtigen Stände
einzuberufen und ihnen dann zuzumuten, daß sie die alte Verfassung von
1819 wieder einführten.*“*) Dieser zweite Plan war fast noch ungeheuer-
licher als der erste, denn gegen die Verfassung von 1819 hatte Ernst August
ja selbst, allerdings nur heimlich, protestiert!
Was ließ sich wider den Starrsinn und die unergründliche Verlogenheit
eines solchen Mannes mit friedlichen Mitteln ausrichten? Der preußische
Gesandte Canitz tat sein Bestes. Er beschwor den Welfen gleich bei der
ersten Audienz, „jeden Schein von unrechtmäßiger Gewalt zu vermeiden“,
und erläuterte seine Ansicht als Kavallerist: bei einer Reiterattacke dürfe
man dem Feinde nie die Flanke bieten. Ernst August stimmte zu und
versicherte: ich werde mich schon vorsehen. Canitz war in schwieriger Lage:
er wollte sich das Vertrauen Scheles, den er für ehrlich hielt, nicht ver-
scherzen, um nicht jeden Einfluß zu verlieren; und doch konnte sich der
streng konservative Diplomat nicht verbergen, daß hier in Hannover die
Gefahr nicht von der Nachgiebigkeit, sondern von der Willkür des Fürsten
drohte, daß die konstitutionellen Formen doch den Vorzug besäßen, die in
kleinen Staaten besonders schwer drückende Tyrannei zu verhindern, daß
die von den Welfen zurückgewünschte alte Kassentrennung allein der Krone
selbst Schaden gebracht hätte. In solchem Sinne äußerte er sich *), immer
sehr behutsam, denn der preußische Hof wußte noch gar nicht, was Ernst
August eigentlich beabsichtigte — aus dem einfachen Grunde, weil es der
Welfe selbst noch nicht wußte. ) Aber sogar diese vorsichtigen Andeu-
tungen machten den alten Herrn ungeduldig: er zeigte sich bald verstimmt
und behandelte den preußischen Gesandten so kühl, wie es die Freundschaft
der beiden Höfe irgend erlaubte.
Im Hochsommer reiste Ernst August zur Kur nach Karlsbad. Er
*) Schele an den Kanzleidirektor Graf Wedel und die Oberjustizräte Jacobi und
v. Bothmer, 15. Juli; Gutachten der Kommission, 28. Juli 1837.
**) Canitz' Bericht, 17. Juli 1837.
/#) Canitz' Berichte, 1., 11. Juli, 11. Sept. 1837 ff.
+) Münchhausens Bericht, 13. Juli 1837.