Aufhebung des Staatsgrundgesetzes. 657
streit und war viel zu klug, um einen mutwilligen Rechtsbruch zu be-
günstigen.
Die Zurückhaltung der Höfe ließ sich wohl begreifen; sie wußten nicht,
wo der Welfe hinaus wollte. Auch in Hannover blieb alles still. Man
fühlte sich gedrückt und verstimmt, aber selbst die Abgeordneten taten
nichts. Als die Georgia Augusta im September das Jubelfest ihres
hundertjährigen Bestehens feierte, und fast alle namhaften Männer des
Landes in Göttingen zusammentrafen, bot sich fast von selbst die Gelegen-
heit, gemeinsame Schritte zur Abwehr des drohenden Staatsstreichs zu
besprechen. Auch dies ward versäumt. Man schmauste über Gräbern,
sagte Dahlmann bitter. Das Fest verlief mit der gewohnten akademischen
Pracht, Alexander Humboldt empfing die Huldigungen aller Fakultäten,
und die Philologen verabredeten sich nach dem Vorbilde der Naturforscher,
regelmäßig wiederkehrende Wanderversammlungen zu halten. Auch der
König erschien auf einen Tag und bemühte sich wenig, der Professoren=
welt seine Verachtung zu verbergen. Als die Bürgerschaft vor der neuen
Aula das Standbild seines verstorbenen Bruders einweihte, drehte er in
dem Augenblicke, da die Hülle fiel, mit scharfer Wendung dem Denkmal
den Rücken zu?'); die philosophische Fakultät aber erhielt einen schnöden
Verweis, weil sie Stüve zum Ehren-Doktor ernannt hatte.
Mit seinen politischen Plänen war Ernst August noch immer nicht
im reinen. Je länger er zögerte, um so gewisser ward es, daß ihm der
gegenwärtige Landtag keine wichtige Verfassungsänderung mehr bewilligen
konnte. Da bot sich ein Helfer. Weil die Gutachten des Ministeriums
und der Kommission nicht nach Wunsch ausgefallen waren, so wurde der
Kanzleidirektor Leist mit einer dritten Prüfung der Rechtsfrage beauftragt,
ein gelehrter alter Reichsjurist, der einst, wie Schele, in westfälische Dienste
gegangen und auf höheren Befehl zu jeder Rechtsverdrehung gern bereit
war. Der bewies jetzt, das Staatsgrundgesetz sei ungültig, weil die Zu-
stimmung der Agnaten fehle und König Wilhelm IV. nachträglich noch
einige Paragraphen einseitig geändert habe.““) Nun endlich begann dem
Welfen einzuleuchten, daß Scheles ursprüngliche Absicht doch das Rechte
getroffen hätte. Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das
Staatsgrundgesetz aufgehoben, die alte Verfassung von 1819 wieder ein-
geführt, das Beamtentum — oder, wie es fortan hieß: die königlichen
Diener — des Verfassungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk
bestechen wollte, den getreuen Untertanen die Summe von 100,000 Tlr.
jährlich an den direkten Steuern erlassen.
So maßte sich der welfische König das Recht an, seine Beamten eines
nicht ihm geleisteten Eides zu entbinden — ein Recht, das in der römischen
*) Nach der Erzählung eines Augenzeugen.
*) S. o. IV. 163.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 12