82 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
enthielt und die Parteien in erfrischendem Wechsel — so lautete der be—
liebte Zeitungsausdruck — sich im Genusse der Herrschaft ablösten. Unter
dem Schutze einer klugen Handelspolitik nahm der Gewerbefleiß einen
mächtigen Aufschwung. Die beiden führenden Stände, Bourgeoisie und
Klerus, hatten ihr Ziel vorläufig erreicht, die hart gedrückten Arbeiter aber
in den Bergwerken und Fabriken waren noch nicht zum Bewußtsein ihrer
elenden Lage gelangt. So verlebte der junge Staat lange Jahre in un-
gestörter Ruhe, und alle Welt glaubte, daß er dies Glück allein den
Wunderkräften seiner Musterverfassung verdanke. Vornehmlich auf den
ehrgeizigen Klerus und das erstarkende Bürgertum der preußischen
Rheinlande übten die Zustände des Nachbarlandes einen verführerischen
Zauber, und — so stark war der weltbürgerliche Zug der Zeit, so schwach
ihr Verständnis für die historische Eigenart der Staaten — zuweilen
hörte man hier schon die naive Frage: ob das waffengewaltige paritätische
Preußen nicht in den Verfassungsformen des neutralen katholischen Bel-
giens sein Heil suchen solle?
Daß in Belgiens demokratischer Verfassung die Krone noch einiges
Ansehen behauptete, war allein das Verdienst des neuen Königs. Leopold
stand noch in der Blüte des Mannesalters, und wie viele seltsame
Wandlungen lagen schon hinter ihm! Gewandter, rastloser, listiger als
in dem Leben dieses koburgischen Ulysses hat sich der alte abenteuernde
Weltbürgersinn des deutschen Kleinfürstenstandes nie gezeigt. Viermal
wechselte er wohlgemut sein Vaterland; aus einem Deutschen ward er
ein Russe, dann Engländer, dann Grieche, schließlich ein Belgier, und
es lag nur an den Umständen, daß er nicht auch noch zum Spanier
oder Brasilianer wurde. Selbst seine Muttersprache verlernte er nach
und nach, so daß er im Alter nur noch ein mit englischen und fran-
zösischen Brocken versetztes Deutsch schreiben konnte. Als russischer General
nahm er rühmlichen Anteil an den Schlachten des Befreiungskrieges
und besorgte sodann auf dem Wiener Kongresse umsichtig die Geschäfte
des koburgischen Hauses. Nachher errang er die Hand der Prinzessin
von Wales und dachte dereinst als Prinz-Gemahl die britische Politik
zu leiten; als diese stolzen Träume durch den Tod seiner Gemahlin
zerstört wurden, behauptete er sich am englischen Hofe in geachteter
Stellung trotz der Ungunst Georgs IV. Da beriefen ihn die Griechen
auf ihren Thron; sofort war er bereit und begann schon sich in die
neue Rolle einzuleben. Nach längerem Zaudern zog er jedoch sein Ver-
sprechen zurück, weil er voraussah, daß Griechenland in seinen engen
Grenzen sich nicht kräftig entwickeln konnte, und weil er insgeheim hoffte,
in England als Ratgeber seiner Nichte Viktoria einst noch größere Erfolge
zu erringen. Auch diese immerhin unsicheren Hoffnungen wurden wieder
aufgegeben, als der Ruf aus Belgien kam, der in der Tat den rechten
Mann an die rechte Stelle führte. Noch bevor Leopold den Thron