Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

84 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. 
Als Leopold gen Brüssel aufbrach, gedachte er Wilhelms III. von 
Oranien und seiner kühnen Fahrt nach England. Gleich jenem gefeierten 
„großen Patrioten der Welt“ hoffte er als ein europäischer Staatsmann 
zugleich den Parlamentarismus zu retten und das Gleichgewicht der 
Mächte zu erhalten. Freilich blieb er hinter seinem genialen Vorbilde eben- 
soweit zurück, wie das kleine Belgien hinter den verbündeten Seemächten 
der wilhelminischen Tage. Brüssel ward wie einst Haag eine Stern- 
warte der Diplomatie; eine Menge amtlicher und persönlicher Agenten 
unterrichtete den Koburger über den Wandel der großen Gestirne am 
europäischen Himmel. Doch eine wahrhaft selbständige Politik, wie einst 
der große Oranier, konnte der König von Belgien nicht führen. Er sah 
sich auf den Schutz der Westmächte angewiesen und ward darum die 
Klammer, die ihren Bund zusammenhielt; wie viele kleine Mißverständ- 
nisse zwischen den beiden ihm gleich nahe verwandten Höfen hat er be- 
hutsam vermittelnd in der Stille beigelegt. Da er indes von Frankreich 
alles, von England nichts zu fürchten hatte, auch seine Neigung ihn 
mehr zu dem Heimatlande seiner ersten Gemahlin hinzog, so entsprach 
seine Haltung in der Regel dem englischen Interesse. Es war Leopolds 
Werk, daß Belgien nicht unter den beherrschenden Einfluß Frankreichs 
geriet. Späterhin trat er auch zu Deutschland in freundlichere Be- 
ziehungen, weil die in der Revolution zurückgedrängten Vlamen wieder 
erstarkten und der schwunghafte Handelsverkehr mit dem Osten nicht 
vernachlässigt werden durfte. Mit der natürlichen Selbstüberschätzung 
schwacher Völker rühmten sich die Belgier fortan, daß ihr Land den 
Mittelpunkt der Staatengesellschaft bilde. Wie vormals die Holländer, 
pflegten sie die Theorie des europäischen Völkerrechts, gleichsam als eine 
nationale Wissenschaft, mit löblichem Eifer, aber auch mit einer philan- 
thropischen Einseitigkeit, welche deutlich zeigte, daß waffenlose Nationen 
die harten Machtfragen des Völkerverkehrs nicht unbefangen würdigen 
können. Im Grunde war der belgische Staat, solange sein erster König 
regierte, nicht wahrhaft neutral wie die Schweiz, sondern, seiner Bestim- 
mung zuwider, der parteiische Bundesgenosse Englands, und mit gutem 
Rechte sagte Lord Palmerston: Belgien ist meine Tochter. 
Die kleine Krone genügte dem Ehrgeiz Leopolds mit nichten; er 
benutzte sie zugleich als ein Mittel für die weltumfassenden Pläne seiner 
Familienpolitik. Dieser kühle Kopf, der so gleichmütig über das legitime 
Recht anderer Fürsten hinwegsah und weder durch religiöse noch durch 
nationale Empfindungen je beunruhigt wurde, kannte nur ein einziges 
Vorurteil: den Aberglauben an den historischen Beruf des koburgischen 
Hauses; und in dieser fatalistischen Zuversicht lag eine Kraft, welche große 
Erfolge verbürgte. Ganz so blind wie einst die habsburgischen Ferdinande 
und Leopolde baute er auf den besonderen Schutz der Vorsehung für sein 
auserwähltes Geschlecht. Obgleich die Dynastie außer ihm selber nur
	        
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