Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

254 V. 3. Enttäuschung und Verwirrung. 
Durfte man wagen, mit diesem im voraus verleumdeten und verlästerten 
Gesetze vor die Landtage zu treten? Nach der Verfassung mußte 
mindestens der materielle Teil des Entwurfs den Provinzialständen 
vorgelegt werden, weil er in das Personenrecht eingriff. Der König 
schwankte; im Ministerium konnte man sich nicht einigen, Graf Arnim 
namentlich beharrte bei seinem Widerspruche. Auch Bunsen, der doch 
ursprünglich das Unternehmen mit veranlaßt hatte, warnte jetzt, da er 
Berlin wieder besuchte, dringend vor der unheildrohenden öffentlichen 
Stimmung. Da vermochte Friedrich Wilhelm nicht mehr stand zu halten. 
Am 28. Juni 1844 wurde plötzlich der kleinere, formale Teil des Ge- 
setzes, der keiner ständischen Beratung bedurfte, als „Verordnung über 
das Verfahren in Ehesachen“ veröffentlicht. Es war unzweifelhaft der best- 
gelungene Teil des Werks, eine dankenswerte Reform, auch darum er- 
freulich, weil sie auf die Neugestaltung des gesamten Prozesses hin- 
deutete. Die Entscheidung der Scheidungsklagen wurde den Obergerichten 
übertragen, und das Verfahren so frei gestaltet, daß dem pflichtmäßigen 
Ermessen der Richter ein weiter Spielraum blieb; selbst an die Geständ- 
nisse der Parteien sollten sie, wegen der naheliegenden Gefahr der Kol= 
lusion, nicht unbedingt gebunden sein. Nach den Erfahrungen der Ober- 
gerichte dachte man, späterhin die Reform des materiellen Eherechts von 
neuem zu beginnen. Wie die Dinge lagen, war dieser halbe Erfolg fast 
unvermeidlich. Der König aber empfand es als eine Niederlage, daß er 
einen Lieblingsplan vor dem Toben einer doch sehr unklaren öffentlichen 
Meinung großenteils zurückziehen mußte. Zudem war Gerlach aus dem 
Rate der Krone verdrängt und Savignys Ansehen schwer erschüttert, 
da er nach dritthalbjähriger Arbeit nur ein so bescheidenes Ergebnis 
gewonnen hatte. 
Auch was der König sonst noch versuchte, um christliche Sitte zu be- 
leben, stieß überall auf unüberwindlichen Widerstand. Mit vollem 
Rechte fand er es anstößig, daß die bestehenden, sehr milden Vorschriften 
über die Sonntagsfeier so nachlässig gehandhabt wurden. Die Behörden 
zeigten wenig Sinn für das kirchliche Leben, noch weniger für die Be- 
drängnis des armen Volkes: was kümmerte sie der Geselle und der Ar- 
beiter, wenn der Ladenbesitzer oder der Fabrikant versicherte, sein Geschäft 
könne keine Unterbrechung ertragen? Die Zeit schien ganz vergessen zu 
haben, daß der Sabbat die größte soziale Wohltat war, welche das Volk 
Israel einst der menschlichen Kultur gebracht hatte. Wohl nicht ohne 
Vorwissen des Königs richteten die evangelischen Geistlichen Berlins in 
seinem ersten Regierungsjahre „ein Wort der Liebe“ an ihre Gemeinden, 
um ihnen die Heiligung des Feiertags ans Herz zu legen und sie wieder 
zu erinnern an die Schleiermachersche Lehre, daß alle Religion sich nur 
in der Gemeinschaft betätige. Leider erweckte diese warme Ansprache 
nur Mißtrauen. Die liberale Presse witterte alsbald Unrat; am lau-
	        
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