340 V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
lichen Union, die über das Dogma hinwegsehend, allein der Moral, der
Duldsamkeit, der Abwehr ausheimischer Mächte leben sollte. Von der
beseligenden Kraft der göttlichen Verheißung, von dem gemeindebildenden
Drange des lebendigen Glaubens hatte er gar keine Ahnung. Zugleich
zeichnete er hier zuerst die Umrisse einer neuen demokratischen Geschichts—
philosophie, die noch viel Unheil in den Köpfen der Halbdenker anzurichten
bestimmt war. Während die Weltgeschichte sich bisher immer durch die
Wechselwirkung großer Persönlichkeiten und der allgemeinen Zustände fort—
gebildet hatte, durch Männer, die aus den Trümmern alter Welten
eine neue zu formen verstanden, sollte sie im neunzehnten Jahrhundert
plötzlich ihren Charakter verändert haben und sich fortan ohne die Macht
des Genius, allein durch die Meinungen und Leidenschaften der Massen
weiter bewegen. So lautete die neueste Geschichtsoffenbarung; Otto v.
Bismarck war gerade dreißig Jahre alt. Gervinus stand nicht an, weiter
zu schließen: die Deutschkatholiken könnten eben darum auf die Zukunft
zählen, weil sie so blutarm seien an bedeutenden Männern; und an diesem
Satze hielt er eigenrichtig fest, obgleich doch gerade in der Kirchengeschichte
die Macht der Persönlichkeit ganz überwältigend wirkt; denn noch nie und
nirgends ist eine kräftige Religion oder Sekte anders entstanden als durch
die erweckende Kraft gottbegeisterter Apostel und Propheten.
Diese trocken politische Beurteilung kirchlicher Dinge war so undeutsch,
daß selbst Gervinus' nächste Freunde darüber erschraken. Vor allen Dahl-
mann. Er hegte, durchweg tiefsinniger und darum bescheidener als sein
jüngerer Freund, von frühauf ein starkes religiöses Gefühl und empfand so
schmerzlich wie einst Niebuhr, daß sein ganzer Bildungsgang ihn dem kirch-
lichen Leben entfremdet hatte. Demütig sprach er aus: „Auf der Sittenlehre
läßt sich keine Kirche gründen. Mir kommt es vor, daß diejenigen, welche
sich an Christus selbst halten, die Kirche ausmachen. Wenn wir andern
ein= und ausgehen, wir bringen Zug, aber keine Wärme hinein.“ Und
der liberale Theolog Thudichum in Büdingen sagte in einer Gegenschrift
ruhig: wo sei denn die aufbauende Kraft der neuen Sekte, da doch die
römische wie die evangelische Kirche trotz allem Zeitungsgeschrei ganz un-
erschüttert dastünde? Ahnlich äußerte sich der Führer der Vermittlungs-
theologen, Ullmann in Heidelberg, ein feiner, sinniger, künstlerisch an-
gelegter Geist. In seinem „Bedenken über die deutsch-katholische Bewegung“
fragte er zweifelnd: wie könne eine dauernde religiöse Gemeinschaft bestehen,
wenn sie nicht wie aus einem Keime herauswüchse aus dem ursprüng-
lichen, vollen Leben eines hervorragenden, geistig gewaltigen Einzelnen?—
Die Zweifler behielten recht. Schon nach Jahresfrist war der Deutsch-
katholizismus ganz verweltlicht, ganz in den Wirrwarr der radikalen Politik
hinabgesunken. Die Ironie des Schicksals fügte, daß er nur im König-
reich Sachsen tiefe Spuren seines Wirkens hinterlassen sollte, in dem ein-
zigen der größeren deutschen Staaten, der fast gar keine Katholiken ent-