Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

356 V. 4. Die Parteiung in der Kirche 
vielen als die Sache der evangelischen Freiheit; in solchem Sinne redete 
ein Aufruf aus Halle, der die Unterschriften Max Dunckers, des Philo— 
sophen Hinrichs und vieler anderen gemäßigten Männer trug. Selbst der 
alte Marheineke — so seltsam verwirrten sich die Parteien — hieß jetzt 
ein Liberaler, weil er Eichhorns Kirchenpolitik literarisch bekämpfte, auch 
als Hegelianer den Rationalisten nahe stand; und er hatte doch einst im 
Namen der allmächtigen Staatsgewalt die liturgischen Schriften Schleier— 
machers ebenso lebhaft befehdet. Neue Verfolgungen schärften den Un— 
willen. In Breslau wurde Konsistorialrat David Schulz entlassen, weil 
er die Adresse der Stadt mit unterschrieben hatte; in Magdeburg konnte 
Erler, ein weit milderer Rationalist, die Bestätigung als Superintendent 
nicht erlangen, weil er an Versammlungen der Lichtfreunde teilgenommen 
und dadurch das Vertrauen des Königs verloren hatte;*) in Halle 
mußte Karl Schwarz, ein gelehrter, keineswegs unkirchlicher junger Theo- 
log, seine Vorlesungen einstweilen, bis auf bessere Erkenntnis, einstellen; 
in Königsberg schloß die reformierte Gemeinde selbst ihre Kirche, nach- 
dem das Konsistorium statt des Pfarrers Detroit, der die Symbole nicht 
verlesen wollte, einen anderen Geistlichen berufen hatte, und als der Ber- 
liner Michelet den Vorfall in einem parteiischen Zeitungsartikel besprach, 
da wurde selbst dieser schon längst unschädliche, ganz in seinen dialektischen 
Formeln eingerostete Hegelianer mit Absetzung bedroht. Das alles geschah 
auf ausdrücklichen Befehl des Königs, der eigenhändig verfügte: „Die 
Frechheit der Feinde des Evangelii wird nachgerade zu arg. Esmuß und 
es soll aufs würdigste und aller-entschiedenste gegen sie eingeschritten 
werden, sowohl in Königsberg, als in Halle, Magdeburg, Nordhausen, 
Berlin oder wo immer der Abfall von Gott vorbereitet wird, um bald vom 
König abfallen zu können.“ *“) Der Partei Hengstenbergs genügten diese 
kleinen Quälereien noch nicht, und auf der weiten Welt fand Friedrich 
Wilhelms Kirchenpolitik nur einen einzigen namhaften Verteidiger: 
Thomas Carlyle, den Namensvetter des Historikers, einen der zwölf Apostel 
der schottischen Irvingianer, der in seiner Schrift „Deutschlands mora- 
lische Phänomene“ den christlichen Monarchen nicht ohne Geist, aber ohne 
Sachkenntnis verherrlichte. 
Die krankhafte, unsern Tagen fast unbegreifliche Reizbarkeit der Zeit 
zeigte sich grell, als Friedrich v. Raumer im Jan. 1847 in Gegenwart 
des Königs eine akademische Gedächtnisrede auf Friedrich II. hielt. Der 
nach Form und Inhalt gleich wertlose Vortrag war ersichtlich veranlaßt 
durch Tholucks Predigt über den großen König und sollte wohl auch der 
gegenwärtigen Regierung einige leise Mahnungen andeuten; diese polemische 
Absicht ließ sich aber kaum bemerken, da der Redner in platter Behaglich- 
  
*) Zwei Kabinettsordres an Eichhorn, Ende Dez. 1845. 
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 4. Jan. 1847.
	        
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