Dingelstedt. 375
bayrische Pfaffenherrschaft oder die närrischen Despotenlaunen der Dutzend-
fürsten und Taschenhöflein, bald in finsterer Ahnung das unheimliche
Schicksal, das über den alten Welfen und seinen blinden Knaben herauf-
zog. Sein bitterster Hohn galt „der Stadt der Bildung und des Tees,
der Künste und der Nücken“, die eitle geistreiche Unfruchtbarkeit der
Berliner Politik und Kunst ekelte ihn an. Ganz unbekümmert um die
Judenschwärmerei seiner liberalen Freunde wagte der Nachtwächter frank
herauszusagen, daß „Er, der Einzle, Einz'ge, Eine“, Rothschild schon in
der Bundesstadt allmächtig schalte; er warnte die Deutschen, das ewig
klagende Juda hätte schon längst zu Haufen sich gesammelt,
Und halb um Gold, und halb mit Sklavenwitze
Kauft es dem Zeitgeist ab sein Losungswort.
Rücksichtslos war seine Muse, wie der Mann selber, aber niemals frech.
In dankbarer Ehrfurcht beugte er sich vor Goethe, Platen, Chamisso; ein
tiefes Heimweh klang durch seine Lieder, wenn er von dem stillen Liebreiz
seines Wesertals oder von dem Freiheitstrotze seiner tapferen hessischen
Landsleute sang; und den Frevlern, die in ihrem rasenden Parteihaß das
Vaterland selber lästerten, erwiderte er einfach:
Nein, wer mit deutscher Zunge spricht
Ruft Deutschland niemals Wehe.
Seine Dichterkraft völlig auszubilden, gelang diesem edel angelegten
Geiste doch niemals. Ein Mensch von Fleisch und Blut, schön, schlank
und liebenswert, sprudelnd von Lebenslust und Lebensmut, sehnte er sich
hinaus aus der kleinbürgerlichen Enge seiner Jugend, er wollte die Welt
sehen, in ihr herrschen, an ihrem Glanze sich sonnen. Als er dann,
ohne seine liberale Gesinnung je zu verleugnen, eine Bibliothekarstelle am
Stuttgarter Hofe erhielt, da mußte er wegen solcher Verhofräterei, wie
Heine spottete, von den Uberzeugungsterroristen der liberalen Presse
groben Unglimpf hören, wie auch Anastasius Grün ein Abtrünniger ge-
scholten wurde, weil er nach dem Brauche seines Hauses den österreichi-
schen Kämmerertitel annahm. Nachher gewann Dingelstedt als Leiter
großer Hofbühnen eine Mittelstellung zwischen der Kunst und der vor-
nehmen Gesellschaft, wie sie seiner Neigung zusagte; er erwarb sich hohe
Verdienste um die Bühne, doch zu eigenem Schaffen konnte er sich in
dem weltmännischen Treiben nur noch selten sammeln.
Diesen Bannerträgern folgte ein ganzes Heer von Zeitpoeten. Die
Oyrik, die so lange in den Taschenbüchern der Damenwelt ein stilles tränen-
seliges Dasein geführt hatte, drängte sich lärmend auf den Markt hinaus;
fast keine Zeitung, die nicht manchmal einen gereimten Leitartikel brachte.
Meist wurde die Poesie durch die Tendenz gänzlich übertäubt; das Vater-
land, so hieß es kurzab, „das will von der Dichterinnung statt dem ver-
brauchten Leiertand nur Mut und biedre Gesinnung.“ Der Ton war
fast überall radikal, da die Kunst keine Vermittlung verträgt. Einer