420 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
rundweg, daß die deutsche Dichtung seit den klassischen Tagen von Weimar
ihre Lebenskraft verloren hätte. Darum behandelte er fast alle, die nach
Schiller und Goethe noch zu dichten gewagt hatten, mit schnöder Un—
gerechtigkeit; darum nannte er unsere gesamte neueste schöne Literatur
einen giftigen, stagnierenden Sumpf — ein Jahr etwa, nachdem Immer—
manns Münchhausen erschienen war — und faßte das Ergebnis seiner
Forschungen dahin zusammen: „Unsere Dichtung hat ihre Zeit gehabt;
und wenn nicht das deutsche Leben stillstehen soll, so müssen wir die Ta-
lente, dic nun kein Ziel haben, auf die wirkliche Welt und den Staat
locken, wo in neue Materie neuer Geist zu gießen ist.“ So seltsame
Paradoxen trieb diese Epoche der Erwartungen hervor: während die Zeit-
poeten unser Volk singend vor dem Singen warnten, schrieb dieser
gestrenge Gelehrte fünf starke Bände historisch-literarischer Erörterungen,
um schließlich zu beweisen, daß unsere alten ästhetischen Ideale heute
nichts mehr bedeuteten. Unwissentlich bestärkte er also die jungen Lyriker,
die er doch tief verachtete, in ihren politischen Tendenzen.
Überhaupt galt sein Werk für eine politische Tat, ganz wie Schlosser
der Moralist von der Masse der Lesewelt wesentlich als ein Prediger des
demokratischen Despotenhasses gepriesen wurde. Gervinus' Geschichtskon-
struktionen enthielten, trotz so mancher Übertreibung und Gewaltsamkeit,
doch den wahren, zeitgemäßen Gedanken, daß dem neuen Geschlechte po-
litische Leidenschaft und Tatkraft nötiger war als ästhetische Beschaulich-
keit, und indem er diesen Gedanken unablässig nach allen Seiten hin und
her wendete, half er an seinem Teile mit, unser Volk für den nationalen
Staat zu erziehen. Von politischer Voraussicht besaß er freilich gar nichts;
seine zahlreichen Weissagungen gingen fast niemals in Erfüllung. Die
Verfassungsformen des inneren Staatslebens galten ihm mehr als die
großen Machtverhältnisse der Staatengesellschaft, denen Ranke sich mit Vor-
liebe zuwendete; und in Wahrheit kam er nie weit hinaus über den Ge-
dankenkreis der süddeutschen liberalen Kammerredner. Daher hielt er es
auch nie der Mühe wert, die beiden politischen Mächte, welche unsere Zu-
kunft trugen, den preußischen Staat und den Zollverein gründlich kennen zu
lernen, obgleich er für Preußen die bündische Hegemonie forderte. Doch
wie durfte man auch eingehende, sachkundige Belehrungen verlangen von den
unzähligen politischen Betrachtungen, die er nebenbei in seine Literatur-
geschichte einwob? Hier genügte zunächst das starke patriotische Pathos.
Schonungslos, mit dem ganzen Nachdruck seiner Selbstgewißheit hielt er
den Deutschen beständig die Unhaltbarkeit ihrer politischen Zustände vor.
Radikale Wahrheiten wirken aber am stärksten von den Lippen der Ge-
mäßigten. Wenn dieser Mann, der tapfere Gegner Börnes und der
jungdeutschen Radikalen, so grell, so unerbittlich die Schande unserer Zer-
rissenheit schilderte, dann mußten die Leser sich an die Brust schlagen.
Also wurde die Literaturgeschichte eine Macht in den politischen Kämpfen