Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

428 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
bilder darbietet, und nachher noch auf neuen Reisen eine unvergleichliche 
Erfahrung sammelte, da reifte der Gedanke seiner Jugend langsam aus. 
In seinen ersten Berliner Vorlesungen zeichnete er schon die Umrisse 
für den Entwurf einer physischen Weltbeschreibung.) Dann verging 
wieder eine lange Zeit in umsichtiger Vorbereitung, und als endlich 
(1844), nach zehnjähriger Drucker-Arbeit, der erste Band des Kosmos 
erschien, da begrüßte ihn der König mit den Goethischen Versen: so 
halt' ich's endlich denn in meinen Händen und nenn' es in gewissem 
Sinne mein. 
Diesmal sprach Friedrich Wilhelm allen Deutschen aus der Seele, denn 
alle fühlten, daß nur ein Deutscher sich zu einer solchen Universalität des 
Wissens und des Denkens aufschwingen konnte. Humboldt sagte selbst von 
seinem Werke: „es muß eine Epoche der geistigen Entwicklung der Mensch- 
heit, in ihrem Wissen von der Natur darstellen.“ Er gab zuerst einen Über- 
blick über das Ganze der geschaffenen Welt, von den Himmelsräumen 
und ihren Nebelsternen an bis herab zu der Geographie der Felsenmoose. 
In dem zweiten, noch reicheren Bande entwarf er sodann, was noch nie- 
mand gewagt hatte, eine Geschichte der Weltanschauung. Er zeigte, wie 
das Bild der Welt die Jahrhunderte entlang sich im Verstande und im 
Gemüte der Menschheit widergespiegelt, wie Himmel und Erde sich nach 
und nach der Wissenschaft, dem Unternehmungsgeiste, dem künstlerischen 
Gefühle aufgeschlossen hatten. Da der Fortschritt des Menschengeschlechts 
sich allein im Bereiche der expansiven Zivilisation unzweifelhaft erweisen 
läßt, so behauptete hier der hoffnungsvolle Optimismus des alten Jahr- 
hunderts, dem Humboldts eigene Bildung entstammte, sein gutes Recht. 
Er schilderte mit wohltuender Wärme, wie es auf Erden, trotz „dem lästi- 
gen Kampfe des Wissens und des Glaubens“ doch immer heller geworden 
war, wie der Gesichtskreis der Menschheit sich beständig erweitert hatte 
und darum auch noch der Tag kommen müsse, da sie in vollem Ernst 
das kühne Seherwort der Renaissancezeit wiederholen dürfte: il mondo 
6 poco. 
Als er dann im dritten Bande sein Weltenbild im einzelnen auszu- 
malen begann, da schwoll ihm der Stoff unter den Händen an, weil das junge 
Geschlecht rastlos von Entdeckung zu Entdeckung aufstieg, und er sollte den 
Abschluß des Werkes nicht mehr erleben. Der Kosmos bezeichnete in der 
Tat eine Epoche unseres geistigen Lebens — in anderem Sinne aller- 
dings, als Humboldt selbst glaubte — er stand vor= und rückschauend auf 
der Grenze zweier Zeitalter. Er war, noch ganz im Geiste unserer klassi- 
schen Dichtungszeiten, als ein großes Kunstwerk gedacht, das durch die 
Pracht seiner reichen Schilderungen den Geist anregen, das ästhetische 
Gefühl befriedigen, „das Gemüt ergötzen sollte“; er war erfüllt von dem 
  
*) S. o. III. 432.
	        
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