Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

36 V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. 
volle Neigung, die Geschäfte an der falschen Stelle anzufassen; in bester 
Absicht verwirrte und verwickelte er die Frage also, daß beide Teile 
zugleich recht und unrecht hatten. Die Mehrzahl der Minister be— 
trachtete die ständische Gesetzgebung der Monarchie als endgültig abge— 
schlossen und verwarf jede Neuerung. Rochow vornehmlich, der vor acht- 
zehn Jahren den Verhandlungen der Notabeln über die Errichtung der 
Provinzialstände beigewohnt ?7), versicherte in einer Denkschrift zuversicht- 
lich, damals hätte „man allseitig die allgemeine Verfassungsfrage für ab- 
getan gehalten“. In ähnlichem Sinne äußerte sich Gerlach, der nachdrück- 
lich hervorhob, daß die zur Huldigung einberufenen Stände sich unmöglich 
für befugt halten könnten, eine so wichtige Angelegenheit alsbald zu ent- 
scheiden.“) Vor diesem allgemeinen Widerspruche verlor der König den 
Mut. Er legte sich nicht die Frage vor, ob es nicht ratsam sei, statt 
der geplanten bedenklichen Halbheit vielmehr eine ganze Gewährung zu 
wagen und den Preußen sogleich bei der Huldigung die Einberufung eines 
wirklichen, mit allen verheißenen Rechten ausgestatteten Reichstags anzu- 
kündigen. Für solche Pläne konnte er an Radowitz oder Canitz freudige 
Helfer finden. Da er aber durchaus selbst regieren wollte und in seinen 
Räten immer nur gleichgültige Werkzeuge sah, so kostete es ihn auch 
wenig Überwindung, sich vorderhand noch mit Ministern zu behelfen, 
welche seinen reichsständischen Absichten widerstrebten. Schon halb ent- 
schlossen, die unbequemen Pläne vorerst zu vertagen, besuchte er den be- 
freundeten sächsischen Hof und traf dort in Pillnitz, am 13. August mit 
dem Fürsten Metternich zusammen. Er besprach sich mit ihm über die 
gemeinsamen Rüstungen gegen Frankreich, über die notwendige Reform 
der Bundesverfassung, nebenbei auch über die preußische Verfassungsfrage; 
und da der Österreicher, wie zu erwarten stand, den Bedenken der preu- 
ßischen Minister lebhaft beipflichtete, so ließ der König für jetzt von seinen 
Vorsätzen ab. Also versäumte er zum ersten Male eine wunderbar günstige 
Stunde; und oft genug hat er späterhin bitterlich geklagt: „ich beweine 
eine neue verlorene Gelegenheit, wie deren so viele!!] seit Jahren 
verloren sind.7*“*) Auch jetzt schon war er keineswegs mit sich zufrieden, 
sondern sagte traurig: „man wird sehen, welche üblen Folgen das haben 
wird.“ 
Der Testamentsentwurf des alten Königs blieb also unausgeführt 
und wurde auf Befehl des Nachfolgers fortan streng geheim gehalten. 
Nunmehr faßte Friedrich Wilhelm den Plan, die Befugnisse der Pro- 
vinzialstände Schritt für Schritt zu erweitern und dergestalt durch die 
belobte organische Entwicklung die dereinstige Berufung der Reichsstände 
*) S. o. III. 237. 
**) Rochows Denlschrift, 27. Juli; eine andere Denlschrift ohne Unterschrift, offen- 
bar von Gerlach, 4. Aug. 1840. 
***) König Friedrich Wilhelm an Thile, 10. Juni 1847.
	        
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