Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Die Petersburger Überraschung. 465 
Preußen. Nach wenigen Wochen lernte der Berliner Hof den Wert der 
russischen Großmut noch näher kennen; denn als der versprochene Ukas 
erschien, da ergab sich, daß die Zollerleichterungen ausdrücklich nur für 
preußische Waren, nicht für Waren des Zollvereins gelten sollten und 
folglich von Preußen nicht angenommen werden konnten. Allerdings hatte 
der Zollverein bisher alle russischen Zollverhandlungen allein durch 
Preußen als den einzigen Grenzstaat führen lassen. Da er aber den inneren 
Verkehr ganz frei ließ, so mußten alle der preußischen Ausfuhr gewährten 
Vorteile notwendig dem gesamten Zollvereine zu gute kommen, wie ja 
auch der russischen Einfuhr nach überschreitung der preußischen Grenze 
sofort das ganze deutsche Zollgebiet offen stand; die Behörden waren 
ohnehin nicht mehr in der Lage, mit Sicherheit preußische Ursprungsscheine 
auszufertigen. Unmöglich konnte sich ein Staatsmann von Cancrins 
Sachkenntnis über diese Verhältnisse täuschen; er beabsichtigte freundnach— 
barlich, neue Vergünstigungen von Preußen zu erpressen, auch wohl Un 
frieden im Innern des Zollvereins zu erregen. 
In der Tat erhoben die süddeutschen Zeitungen, sobald der Ukas 
bekannt wurde, ein heftiges Geschrei gegen Preußens treulose Selbstsucht. 
Wieder einmal ein ganz ungerechter Vorwurf gegen die Vormacht des 
Zollvereins. Der preußische Hof dachte keinen Augenblick an eine Preis- 
gebung seiner Zollverbündeten; er ließ vielmehr alsbald erwidern, daß er 
die russischen Gewährungen ablehne, wenn sie nicht dem ganzen Zollver- 
eine zu teil würden. Cancrin aber empfing diese Antwort, die doch gar 
nicht anders lauten konnte, mit so wohl gespielter entrüsteter Verwunde- 
rung, daß König Friedrich Wilhelm sich über die Heuchelei des Deutsch- 
Russen entsetzte und in hellem Zorne schrieb: „Ich möchte ihn anreden mit 
dem Schluß der Rede des Götz von Berlichingen an den Reichstrompeter!!! 
Die russische Verpuppung ist bei diesem Deutschen voll- 
endet.“) Nunmehr erklärte Nesselrode erhaben, sein Kaiser „zögere 
nicht, auf das Kartell zu verzichten und also ein neues Opfer allen denen, 
die er sich schon freiwillig auferlegt, hinzuzufügen.“) Mehrere Monate 
lang lebten hierauf die beiden Nachbarstaaten ohne jedes Vertragsverhält- 
nis; Preußen beschränkte sich auf die Auslieferung gemeiner Verbrecher.) 
Auch der Prinz von Preußen richtete nichts aus, als er im Dezember 
den russischen Schwager besuchte. Der Zar wetterte und tobte, er ver- 
fiel in seinem Grimm auf ungeheuerliche Verteidigungspläne, befahl alle 
Juden 50 Werst weit von der Grenze wegzuschaffen und dachte sogar, 
der Westgrenze entlang einen Landstreifen von der Breite eines Kilometers 
ganz wüst legen zu lassen, um also jede Flucht und jeden Schmuggel zu 
*) Randbemerkungen zu Bülows Schreiben an Thile vom 9. März 1843. 
**) Nesselrode an den stellvertretenden Gesandten v. Fonton in Berlin, 31. Aug. 1842. 
* *#) Weisung des Ministers des Innern an den Oberpräsidenten Bötticher, 16. Nov.; 
Kabinettsordre an Boyen, Bülow, Arnim, 23. Nov. 1842. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte V. 30
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.