Die Petersburger Überraschung. 465
Preußen. Nach wenigen Wochen lernte der Berliner Hof den Wert der
russischen Großmut noch näher kennen; denn als der versprochene Ukas
erschien, da ergab sich, daß die Zollerleichterungen ausdrücklich nur für
preußische Waren, nicht für Waren des Zollvereins gelten sollten und
folglich von Preußen nicht angenommen werden konnten. Allerdings hatte
der Zollverein bisher alle russischen Zollverhandlungen allein durch
Preußen als den einzigen Grenzstaat führen lassen. Da er aber den inneren
Verkehr ganz frei ließ, so mußten alle der preußischen Ausfuhr gewährten
Vorteile notwendig dem gesamten Zollvereine zu gute kommen, wie ja
auch der russischen Einfuhr nach überschreitung der preußischen Grenze
sofort das ganze deutsche Zollgebiet offen stand; die Behörden waren
ohnehin nicht mehr in der Lage, mit Sicherheit preußische Ursprungsscheine
auszufertigen. Unmöglich konnte sich ein Staatsmann von Cancrins
Sachkenntnis über diese Verhältnisse täuschen; er beabsichtigte freundnach—
barlich, neue Vergünstigungen von Preußen zu erpressen, auch wohl Un
frieden im Innern des Zollvereins zu erregen.
In der Tat erhoben die süddeutschen Zeitungen, sobald der Ukas
bekannt wurde, ein heftiges Geschrei gegen Preußens treulose Selbstsucht.
Wieder einmal ein ganz ungerechter Vorwurf gegen die Vormacht des
Zollvereins. Der preußische Hof dachte keinen Augenblick an eine Preis-
gebung seiner Zollverbündeten; er ließ vielmehr alsbald erwidern, daß er
die russischen Gewährungen ablehne, wenn sie nicht dem ganzen Zollver-
eine zu teil würden. Cancrin aber empfing diese Antwort, die doch gar
nicht anders lauten konnte, mit so wohl gespielter entrüsteter Verwunde-
rung, daß König Friedrich Wilhelm sich über die Heuchelei des Deutsch-
Russen entsetzte und in hellem Zorne schrieb: „Ich möchte ihn anreden mit
dem Schluß der Rede des Götz von Berlichingen an den Reichstrompeter!!!
Die russische Verpuppung ist bei diesem Deutschen voll-
endet.“) Nunmehr erklärte Nesselrode erhaben, sein Kaiser „zögere
nicht, auf das Kartell zu verzichten und also ein neues Opfer allen denen,
die er sich schon freiwillig auferlegt, hinzuzufügen.“) Mehrere Monate
lang lebten hierauf die beiden Nachbarstaaten ohne jedes Vertragsverhält-
nis; Preußen beschränkte sich auf die Auslieferung gemeiner Verbrecher.)
Auch der Prinz von Preußen richtete nichts aus, als er im Dezember
den russischen Schwager besuchte. Der Zar wetterte und tobte, er ver-
fiel in seinem Grimm auf ungeheuerliche Verteidigungspläne, befahl alle
Juden 50 Werst weit von der Grenze wegzuschaffen und dachte sogar,
der Westgrenze entlang einen Landstreifen von der Breite eines Kilometers
ganz wüst legen zu lassen, um also jede Flucht und jeden Schmuggel zu
*) Randbemerkungen zu Bülows Schreiben an Thile vom 9. März 1843.
**) Nesselrode an den stellvertretenden Gesandten v. Fonton in Berlin, 31. Aug. 1842.
* *#) Weisung des Ministers des Innern an den Oberpräsidenten Bötticher, 16. Nov.;
Kabinettsordre an Boyen, Bülow, Arnim, 23. Nov. 1842.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte V. 30