Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

466 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft. 
verhindern.“) Dem Gesandten Liebermann, der freilich mit seiner recht- 
haberischen Taktlosigkeit den Erbosten nicht zu beschwichtigen verstand, 
zeigte er deutlich seine üble Laune; dem getreuen Rauch aber sagte er 
bitter: der wilde Russenhaß, der sich überall in Deutschland bekundet, macht 
mir jede Freundlichkeit gegen den Zollverein unmöglich.“) 
Endlich fühlte er, daß er mit solchem Trotze nicht weiter kam. Die 
Verhandlungen begannen von neuem, und die preußische Regierung ent— 
deckte einen Ausweg, der dem Zaren erlaubte, sich ohne förmlichen Wider— 
ruf zurückzuziehen. Liebermann mußte vorschlagen, der Kaiser brauche 
seinen Ukas nicht aufzuheben, er brauche nur zu befehlen, die preußischen 
Ursprungsscheine sollten genügen, wenn sie die einfache Versicherung ent— 
hielten, daß die eingeführten Waren aus dem freien Verkehre des In— 
lands — und dies bedeutete: aus dem Zollvereine — herstammten. 
Darauf erwiderte Cancrin mit einem Tugendstolze, der aus russischem 
Munde hoch ergötzlich klang: dieser Vorschlag ist etwas jesuitisch. ) Je- 
doch begann er bald einzusehen, daß dieser unsittliche Vorschlag ihm eine 
goldene Brücke baute. Im September 1843 kam Nikolaus selbst nach 
Preußen und fühlte sich ganz entzückt, als bei den Manövern zwei Armee- 
korps und 17 Reiterregimenter in den schönen neuen Helmen und Waffen- 
röcken vor ihm erschienen. Hier wurde nochmals wegen des Grenzverkehrs 
mit ihm verhandelt ), und nun endlich, im Januar 1844, bewilligte er 
die von Preußen geforderte freiere Fassung der Ursprungsscheine; die 
Waren aus dem Zollvereine wurden mithin, ohne daß man es förmlich 
aussprach, den preußischen gleich gestellt. Nachdem Preußen also den 
nächsten Zweck erreicht hatte, schrieb der König seinem Schwager zärtlich: 
„Du hast eine gute und große Tat vollbracht, indem Du die neue Form 
der Zollscheine anordnetest für die Waren, welche, nach Deinen Wohltaten 
vom vorigen Jahre, Deine Grenzen zu überschreiten wagen. Darum bin 
ich nicht mehr gezwungen, auf diese Wohltaten für meine Untertanen 
zu verzichten. Auch Deine Stellung, teuerster Freund, ist Deutschland 
gegenüber jetzt eine andere geworden, sie ist jetzt gut, sie ist, was sie sein 
soll; und viele Dinge, die ich im vergangenen Jahre nicht zu tun wagte, 
weil eine achtungswerte öffentliche Meinung sich ihnen widersetzte, sind 
heute tunlich, denn der Widerspruch des Publikums würde jetzt nicht 
mehr achtungswert sein und folglich von mir nicht beachtet werden.“##) 
Nunmehr kam man rascher vorwärts. Preußen setzte die Durchfuhrzölle 
für den Flußverkehr des russischen Getreides etwas herab und erneuerte 
am 20. Mai 1844 den Kartellvertrag. 
*) Berichte des Ministers Graf Arnim an den König, 19. Juli, 10. Aug. 1843. 
**) Berichte von Liebermann, 14. Nov., 20. Dez.; von Rauch, 30. Dez. 1842. 
***) Liebermanns Bericht, 21. April 1843. 
f) Bülow, Rundschreiben an die Gesandtschaften, 20. Sept. 1843. 
)König Friedrich Wilhelm an Kaiser Nikolaus, 4. Febr. 1844. 
 
	        
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