Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Forderungen der Schutzzollpartei. 469 
zwei Drittel verminderte, stieg die englische Einfuhr beständig, die des 
Leinengarns allein wuchs in fünf Jahren (1840—44) auf mehr als 
das Dreifache an, von 19000 auf 62000 Zitr. 
Die Regierung verhielt sich bei alledem fast ganz untätig; sie glaubte 
noch lange an die alte Unüberwindlichkeit der schlesischen Leinenwaren, 
und als sie von diesem Irrtum endlich zurückkam, da meinten die Geheimen 
Räte gleichmütig, gegen die Naturgesetze der Volkswirtschaft könne man 
nichts ausrichten. Und doch war gerade hier, inmitten eines blutarmen, 
bis zur Willenlosigkeit ermatteten Volkes friderizianische Bevormundung, 
durchgreifende Staatshilfe ganz am Platze: der Staat mußte Schutzzölle 
gewähren, Maschinen ankaufen, Spinnschulen und große mechanische Spin- 
nereien errichten, wenn diese halbverhungerten Menschen dem englischen 
Kapital nicht erliegen sollten. Merckel aber, der tüchtige, um das Wohl 
Schlesiens unablässig besorgte Oberpräsident, bemühte sich seit Jahren, die 
neuen Agrargesetze gegen den Widerstand der Grundherren durchzuführen, 
er lebte und webte in den Emanzipationsgedanken der Hardenbergischen 
Zeiten, Freiheit des Eigentums und der Arbeitskräfte blieb ihm das 
Höchste. Die schlesische Hausindustrie war längst frei, sie hatte einen Zunft- 
zwang nie gekannt; Merckel begriff nicht, was der Staat dort noch helfen 
solle, und wollte von dem Jammer im Riesengebirge nichts hören. Festge- 
bannt in seiner volkswirtschaftlichen Theorie verabsäumte er also seine 
staatsmännische Pflicht und verfiel, gleich vielen seiner besten Amtsgenossen, 
in eine tragische Schuld, weil er nicht rechtzeitig einsah, daß die befreiende 
Staatsgewalt in diesem Jahrhundert der wirtschaftlichen Wandlungen auch 
zu zwingen und zu schützen verstehen mußte. Die Ungunst der Verhältnisse 
des Weltmarktes und die langjährigen Unterlassungssünden der Regierung 
hatten jetzt das Elend der schlesischen Leinwandindustrie schon so hoch ge- 
steigert, daß Schutzzölle allein kaum noch viel helfen konnten. 
Luch die neuen, zum Teil sehr leichtfertig gegründeten Baumwoll- 
spinnereien des Südens verlangten heftig nach stärkerem Schutz, während 
die Baumwollwebereien den bestehenden Twistzoll, der etwa 6 Prozent vom 
Werte betrug, schon viel zu hoch fanden. So entbrannte der lange, leiden- 
schaftliche Kampf zwischen Spinnern und Webern. Jeder der verbündeten 
Höfe suchte, wie billig, das in seinem Lande überwiegende Interesse 
zu begünstigen; die sächsische Regierung trat an die Spitze der Freihandels- 
partei, weil die großen Baumwollfabriken des Erzgebirges fast ausschließ- 
lich englisches Baumwollengarn verarbeiteten. Im preußischen Finanz- 
ministerium bemühte man sich redlich, die beiden feindlichen Interessen 
gegeneinander abzuwägen und entschied sich endlich gegen die Erhöhung 
der Garnzölle, da Kühne berechnete, daß die Weberei im gesamten Zoll- 
vereine unvergleichlich mehr Arbeitskräfte beschäftigte als die Spinnerei. 
Aber so mechanisch, nach Zahlen allein, lassen sich die lebendigen Kräfte 
der nationalen Wirtschaft nicht abschätzen. Die stark übertriebenen
	        
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