Forderungen der Schutzzollpartei. 469
zwei Drittel verminderte, stieg die englische Einfuhr beständig, die des
Leinengarns allein wuchs in fünf Jahren (1840—44) auf mehr als
das Dreifache an, von 19000 auf 62000 Zitr.
Die Regierung verhielt sich bei alledem fast ganz untätig; sie glaubte
noch lange an die alte Unüberwindlichkeit der schlesischen Leinenwaren,
und als sie von diesem Irrtum endlich zurückkam, da meinten die Geheimen
Räte gleichmütig, gegen die Naturgesetze der Volkswirtschaft könne man
nichts ausrichten. Und doch war gerade hier, inmitten eines blutarmen,
bis zur Willenlosigkeit ermatteten Volkes friderizianische Bevormundung,
durchgreifende Staatshilfe ganz am Platze: der Staat mußte Schutzzölle
gewähren, Maschinen ankaufen, Spinnschulen und große mechanische Spin-
nereien errichten, wenn diese halbverhungerten Menschen dem englischen
Kapital nicht erliegen sollten. Merckel aber, der tüchtige, um das Wohl
Schlesiens unablässig besorgte Oberpräsident, bemühte sich seit Jahren, die
neuen Agrargesetze gegen den Widerstand der Grundherren durchzuführen,
er lebte und webte in den Emanzipationsgedanken der Hardenbergischen
Zeiten, Freiheit des Eigentums und der Arbeitskräfte blieb ihm das
Höchste. Die schlesische Hausindustrie war längst frei, sie hatte einen Zunft-
zwang nie gekannt; Merckel begriff nicht, was der Staat dort noch helfen
solle, und wollte von dem Jammer im Riesengebirge nichts hören. Festge-
bannt in seiner volkswirtschaftlichen Theorie verabsäumte er also seine
staatsmännische Pflicht und verfiel, gleich vielen seiner besten Amtsgenossen,
in eine tragische Schuld, weil er nicht rechtzeitig einsah, daß die befreiende
Staatsgewalt in diesem Jahrhundert der wirtschaftlichen Wandlungen auch
zu zwingen und zu schützen verstehen mußte. Die Ungunst der Verhältnisse
des Weltmarktes und die langjährigen Unterlassungssünden der Regierung
hatten jetzt das Elend der schlesischen Leinwandindustrie schon so hoch ge-
steigert, daß Schutzzölle allein kaum noch viel helfen konnten.
Luch die neuen, zum Teil sehr leichtfertig gegründeten Baumwoll-
spinnereien des Südens verlangten heftig nach stärkerem Schutz, während
die Baumwollwebereien den bestehenden Twistzoll, der etwa 6 Prozent vom
Werte betrug, schon viel zu hoch fanden. So entbrannte der lange, leiden-
schaftliche Kampf zwischen Spinnern und Webern. Jeder der verbündeten
Höfe suchte, wie billig, das in seinem Lande überwiegende Interesse
zu begünstigen; die sächsische Regierung trat an die Spitze der Freihandels-
partei, weil die großen Baumwollfabriken des Erzgebirges fast ausschließ-
lich englisches Baumwollengarn verarbeiteten. Im preußischen Finanz-
ministerium bemühte man sich redlich, die beiden feindlichen Interessen
gegeneinander abzuwägen und entschied sich endlich gegen die Erhöhung
der Garnzölle, da Kühne berechnete, daß die Weberei im gesamten Zoll-
vereine unvergleichlich mehr Arbeitskräfte beschäftigte als die Spinnerei.
Aber so mechanisch, nach Zahlen allein, lassen sich die lebendigen Kräfte
der nationalen Wirtschaft nicht abschätzen. Die stark übertriebenen