Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

476 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft. 
Zahl, diese einst durch den Vater des englischen Radikalismus Jeremias 
Bentham zuerst verkündigte Doktrin gewann im britischen Volke immer 
breiteren Boden; aus ihr ergab sich das Verlangen nach freiem Handel 
und wohlfeiler Konsumtion. Die Mittelklassen, die seit der Reformbill 
in das Parlament eingedrungen war, richteten ihre Angriffe zunächst 
gegen die Kornzölle, weil sie fühlten, daß die dem alten Adel noch ge- 
bliebene Macht zum Teil auf den Korngesetzen ruhte. Die breiten Massen 
der Arbeiter dagegen betrachteten diese zugleich politische und wirtschaft- 
liche Bewegung mit Argwohn; sie trauten dem Bürgertum noch weniger 
als den Grundherren und sie befürchteten von der Abschaffung der Korn- 
zölle ein Sinken der Arbeitslöhne, das allerdings von vielen Gegnern der 
Korngesetze insgeheim erhofft wurde. Seit dem Jahre 1839 begann die 
von Richard Cobden gestiftete Anti-Korngesetz-Liga durch Versammlungen, 
Zeitungen und Flugschriften, durch Reiseprediger und Massenpetitionen, 
durch Aufzüge und Gewerbeausstellungen das Bürgertum zu bearbeiten, 
die Fabrikanten versorgten sie mit gewaltigen Geldmitteln. Nach sechs 
Jahren rastloser Agitation hatte sie die große Mehrheit der Mittelklassen, 
zumal in Manchester und dem gewerbreichen Nordwesten für sich ge- 
wonnen, weithin durch das Land scholl der Ruf nach freiem Handel. 
In den Schriften der neuen Manchesterschule lebte das alte hierzu- 
lande noch niemals wissenschaftlich überwundene Naturrecht wieder auf, dessen 
Sätze, gleich allen unlebendigen Abstraktionen, von der materialistischen 
Plattheit ebenso leicht ausgebeutet werden konnten wie von dem überspannten 
Idealismus. Darum vermochte John Stuart Mill sich gleichzeitig für Wil- 
helm Humboldt und für den englischen Radikalismus zu begeistern. In den 
Formeln mit Humboldt übereinstimmend, und doch im denkbar schärfsten 
Gegensatz zu ihm, betrachtete Cobden den Staat als eine durch die Willkür 
der Einzelmenschen gegründete Versicherungsanstalt, die lediglich Geschäft 
und Arbeit vor gewaltsamen Störungen behüten und von den Versicherten 
möglichst niedrige Prämien verlangen sollte. Die Volkswirtschaft blieb 
ihm der einzige Inhalt des Menschenlebens, rasches Reisen der Muster- 
reiter und wohlfeile Kattunerzeugung der höchste Zweck jeder Kultur. In 
vollem Ernst sprach er aus, daß Stephenson und Watt für die Weltgeschichte 
unvergleichlich mehr bedeuteten als Cäsar oder Napoleon. Wurden nur erst 
überall Handel und Wandel ihrer natürlichen Freiheit überlassen, dann 
mußte sich jede Nation unfehlbar den Erwerbszweigen widmen, welche sie 
mit dem größten Gewinn betreiben konnte, jede arbeitete also allen anderen 
in die Hände durch eine Ausfuhr, die der Einfuhr immer genau entsprach; 
die Harmonie der Interessen stellte sich von selber her, der ruchlose Luxus 
der stehenden Heere hörte auf, die Schwerter verwandelten sich in Pflug- 
scharen nach der Weissagung des alten Propheten, und der ewige Friede 
brach an. Cobden liebte die Arbeiter aufrichtig, er wollte ihnen durch das 
billigere Brot eine Wohltat erweisen; er verteidigte sogar den Schulzwang,
	        
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