Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Boyens zweite Amtsführung. 593 
auch der fröhliche friderizianische Reitergeist belebte sich wieder und die 
steifen Paradekünste der langen Friedenszeit gerieten in Verruf, seit 
General Wrangel auf den Kavalleriemanövern von 1843 gezeigt hatte, 
was der weit ausholende Angriff großer Reitermassen zu leisten vermag. 
Inzwischen erhielt die Armee neue Kriegsartikel und ein wohl durch- 
dachtes Militärstrafgesetzbuch, woran die Räte des Justizministeriums 
und die Offiziere gemeinsam gearbeitet hatten. 
Die Organisation des Heeres aber, deren Mängel doch mit jedem 
Jahre greller hervortraten, blieb leider unverändert. Je stärker die Be- 
völkerung anwuchs, um so weiter entfernte man sich unwillkürlich von dem 
großen Grundsatze der allgemeinen Wehrpflicht. Die Masse der Reklama- 
tionen, welche bei den Mobilmachungen der dreißiger Jahre und nachher 
noch bei jeder Landwehrübung einliefen, bewies keineswegs, wie die 
Schwarzseher behaupteten, daß der opferfreudige Sinn im preußischen 
Volke erstorben war, sie war vielmehr nur die natürliche Folge der fehler- 
haften Heeresverfassung. Mußte der Landwehrmann nicht über Ungerech- 
tigkeit klagen, wenn er von Weib und Kind, von den dringenden Arbeiten 
seines Geschäfts hinweggerufen wurde, während Tausende jüngerer, wehr- 
kräftiger Männer dienstfrei blieben? Boyen entwickelte die Gedanken, die 
ihn bei seinem Wehrgesetze geleitet hatten, kurz vor seinem Rücktritt (1847) 
noch einmal in einer großen Denkschrift „Überblick der preußischen Heer- 
verfassung und ihrer Kosten seit dem Großen Kurfürsten“. Er wollte „ein 
von der übrigen Landesbewaffnung getrennt zu bewegendes stehendes 
Heer“, denn eine reine Linien-Armee sei, wegen der Masse der Beurlaub- 
ten, „vor erklärtem Kriege das unbeweglichste Ding von der Welt“. Er 
verlangte, dies stehende Heer müsse zu einem Viertel aus altgedienten Ka- 
pitulanten bestehen und so stark sein, daß bei dreijähriger Dienstzeit die 
gesamte Mannschaft der Landwehr in seinen Reihen ausgebildet würde. 
Aber wie wenig entsprach die Wirklichkeit diesen wohlberechtigten Grund- 
sätzen! Die stehende Armee war so schwach, daß sie getrennt von der 
Landwehr nicht wirksam bewegt werden konnte. Nicht zum Kriege, son- 
dern lediglich zur Bewachung seiner Grenzen hatte der Staat nach 1830, 
unter schwerer Schädigung der Volkswirtschaft, den größten Teil des ersten 
Aufgebots der Landwehr unter die Fahnen rufen müssen. Die Zahl der 
Kapitulanten wurde stark herabgesetzt, da bei dem steigenden Arbeitslohn 
der bürgerlichen Gewerbe der Soldatendienst so wenig lockend erschien; 
man verlangte ihrer nur noch 720 für die vier Linien-Infanterieregimenter 
jedes Armeekorps. Doch selbst diesen verringerten Anforderungen wurde 
nicht von fern genügt; das arme Ostpreußen, das noch die meisten schlecht 
gelohnten Arbeiter besaß, stellte für sein erstes Armeekorps (1847) nur 
449 Kapitulanten, das rheinische Armeekorps zählte ihrer gar nur 150. 
Zudem diente die Masse der Mannschaft jetzt nur noch zwei Jahre. Sehr 
ungern, „allein dem Drange der Umstände“ weichend, hatte der alte König 
v. Treltschke, deutsche Geschichte. V. 38
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.