Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Zweijährige Dienstzeit. Linie und Landwehr. 595 
arbeitung der Feldgeschütze, die dringend nötigen Soldzulagen für ältere 
Unteroffiziere großen Aufwand forderten. Dafür suchte man im einzelnen 
ängstlich, oft zum Schaden des Dienstes zu sparen. Sogar die Übungen 
der Linientruppen wurden verkürzt, und selbst für den Kriegsfall versprach 
man sich beträchtliche Ersparungen von einem neu ausgearbeiteten Mo— 
bilmachungsplane.7) Als der Kriegsminister zum zweiten Male zurücktrat, 
da war das Heer treu wie Gold und nach wie vor sehr tüchtig, aber in 
seiner Organisation so mangelhaft, daß ihm in unruhiger Zeit peinliche 
Erfahrungen nicht erspart bleiben konnten. 
Weil er seine Landwehr überschätzte, hatte Boyen einst zum ersten 
Male sein Amt aufgeben müssen, und seltsamerweise war er in zwanzig 
Friedensjahren von diesem alten Lieblingsgedanken noch nicht ganz los- 
gekommen. Nichts lag dem genialen Manne ferner als die laienhafte 
Schwärmerei für ein ungeschultes Volksheer. Wenn man ihn fragte, 
warum er nicht einfach die improvisierte Landwehr des Jahres 1813 bei- 
behalten habe, dann antwortete er scharf: „weil ich etwas Besseres wollte, 
als was die Not geboren hatte.“ Gleichwohl verlangte er, daß die Land- 
wehr, die doch jetzt nur aus gedienten Soldaten bestand, unabhängig neben 
der Linie stehen müsse. „Es liegt im Geiste der Landwehr,“ so sagte er 
noch in seiner letzten Denkschrift, „daß ihre Offiziere bis zum Hauptmann 
aus ihr selbst hervorgehen;“ jungen Leutnants von der Linie wollte er 
die Führung alter Wehrmänner nicht anvertrauen. Unter den fast durch- 
weg patriotisch und wissenschaftlich gebildeten Landwehroffizieren befanden 
sich aber nach so langer Friedenszeit nur noch wenige streng militärisch 
geschulte, und unter diesen wieder nur wenige, die sich jederzeit von den 
Pflichten ihres bürgerlichen Berufes befreien konnten, um der Fahne zu 
folgen. Da die Landwehr auch an brauchbaren Unteroffizieren Mangel litt, 
so bedurfte sie durchaus einer großen Zahl abkommandierter Linienoffiziere, 
zumal für die verantwortlichen Stellen der Kompagnieführer. Darum 
hatte der alte König immer, gegen Boyens Widerspruch, die geschlossene 
Einheit des Heeres, die feste Verbindung zwischen Linie und Landwehr 
zu wahren gesucht. Diese Meinung vertraten auch jetzt noch nachdrücklich 
der Prinz von Preußen und der vertraute General à la sSuite v. Forstner. 
Der neue König aber ließ den Kriegsminister gewähren, und Boyen er- 
nannte, im festen Vertrauen auf die bürgerliche „Intelligenz“, nach und 
nach eine große Anzahl von Landwehrhauptleuten — bis sich dann in den 
Revolutionsjahren herausstellte, daß gerade in den westlichen Provinzen, 
die sich so gern ihrer überlegenen Bildung rühmten, die Menge der unab- 
kömmlichen oder unverwendbaren Landwehroffiziere besonders groß war. 
Erstaunlich doch, wie der preußische Organisator auf diesem Gebiete 
  
*) General v. Reyher, Denkschrift über den Mobilmachungsplan (an Thile), 9. April 
1847. 
38“
	        
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