Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Die Disziplinargesetze. 599 
nicht. Er lebte sich immer tiefer ein in die Vorstellung, daß auf die gründliche 
wissenschaftliche Durchbildung des Richterstandes alles ankomme; er ver— 
kannte, daß es Zeiten gibt, wo die Gesetzfabrikation, die er so tief ver— 
achtete, zum notwendigen Übel wird, wo der rasche Wechsel aller sozialen 
Verhältnisse eine schlagfertige, ja seltst überhastete Tätigkeit der Gesetz- 
gebung geradezu erzwingt. Ihm fehlte die starke, das Leben gestaltende 
Willenskraft, die den Juristen zum Gesetzgeber macht, der praktische Ehrgeiz 
eines Schwarzenberg oder Svarez. Die mannigfachen Entwürfe, die er sich 
durch seine Räte ausarbeiten ließ, stießen stets auf seine Bedenken, weil 
das Vollkommene doch nicht erreicht war, und als er nach einigen Jahren 
selbst zu seinen geliebten wissenschaftlichen Untersuchungen zurückkehrte, da 
stockte die Arbeit in seinem Ministerium so gänzlich, daß der König sogar 
an der staatsmännischen Kraft des verehrten Lehrers zu verzweifeln begann. 
Zum Unglück wurde auch Savigny von der liberalen öffentlichen 
Meinung mit verunglimpft, als im Jahre 1844 die in Mühlers Mini- 
sterium ausgearbeiteten neuen Disziplinargesetze für das Beamtentum 
erschienen. Das preußische Landrecht sprach nur von der Unabsetzbarkeit 
der Richter, da in den friderizianischen Zeiten jeder Beamte nur für ein 
bestimmtes Amt ernannt wurde; auch die Charte der Franzosen verlangte 
nicht mehr; erst der Art. 100 der belgischen Verfassung stellte die Regel 
auf, daß der Richter nur mit seiner Einwilligung auf eine andere Stelle 
versetzt werden dürfe. Dieser völlig neue Grundsatz wurde aber, wie alles, 
was aus Belgien kam, von dem rheinischen Richterstande mit Frohlocken 
aufgenommen, dann durch den scharfen Westwind dieser Jahre auch in 
die alten Provinzen hinübergetragen. Da nun die neuen Disziplinar- 
gesetze dem Justizminister die Versetzung der Richter, im Interesse des 
Dienstes oder auch zur Strafe, erlaubten, so erhob der Stadtgerichtsrat 
Heinrich Simon in Breslau, ein Fanatiker des juristischen Formalismus, 
seine donnernde Stimme, um mit dialektischer Kunst und zeitgemäßem 
Pathos zu erweisen, diese Neuerung zerstöre einen Grundpfeiler preußischer 
Freiheit. Er nahm deshalb seinen Abschied und führte noch einen groben 
Federkrieg mit dem alten Kamptz, der, begreiflich genug, für das Mini- 
sterium auftrat. Ebenso begreiflich, daß die liberale Presse sich für Simon 
begeisterte. Unbekümmert um das preußische Landrecht, erklärte sie ihre 
vernunftrechtlichen Schlagwörter kurzerhand für geltendes Recht, und weil 
das Mißtrauen gegen jede Regierung für freisinnig galt, so ward dem 
unglücklichen Könige auch noch angedichtet, daß er die Rechtspflege ver- 
fälschen wolle. In Wahrheit blieb die Selbständigkeit des preußischen 
Richterstandes nach wie vor ganz unangetastet, ja sie wurde nicht. selten 
schon zu Parteizwecken mißbraucht, seit der Geist der Opposition in alle 
Kreise des Beamtentums unaufhaltsam eindrang. Als das Paderborner 
Oberlandesgericht den wegen eines radikalen Gedichtes angeklagten Publi- 
zisten Lüning freisprach, da fügten die pflichtvergessenen Richter ihrem
	        
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