Die Disziplinargesetze. 599
nicht. Er lebte sich immer tiefer ein in die Vorstellung, daß auf die gründliche
wissenschaftliche Durchbildung des Richterstandes alles ankomme; er ver—
kannte, daß es Zeiten gibt, wo die Gesetzfabrikation, die er so tief ver—
achtete, zum notwendigen Übel wird, wo der rasche Wechsel aller sozialen
Verhältnisse eine schlagfertige, ja seltst überhastete Tätigkeit der Gesetz-
gebung geradezu erzwingt. Ihm fehlte die starke, das Leben gestaltende
Willenskraft, die den Juristen zum Gesetzgeber macht, der praktische Ehrgeiz
eines Schwarzenberg oder Svarez. Die mannigfachen Entwürfe, die er sich
durch seine Räte ausarbeiten ließ, stießen stets auf seine Bedenken, weil
das Vollkommene doch nicht erreicht war, und als er nach einigen Jahren
selbst zu seinen geliebten wissenschaftlichen Untersuchungen zurückkehrte, da
stockte die Arbeit in seinem Ministerium so gänzlich, daß der König sogar
an der staatsmännischen Kraft des verehrten Lehrers zu verzweifeln begann.
Zum Unglück wurde auch Savigny von der liberalen öffentlichen
Meinung mit verunglimpft, als im Jahre 1844 die in Mühlers Mini-
sterium ausgearbeiteten neuen Disziplinargesetze für das Beamtentum
erschienen. Das preußische Landrecht sprach nur von der Unabsetzbarkeit
der Richter, da in den friderizianischen Zeiten jeder Beamte nur für ein
bestimmtes Amt ernannt wurde; auch die Charte der Franzosen verlangte
nicht mehr; erst der Art. 100 der belgischen Verfassung stellte die Regel
auf, daß der Richter nur mit seiner Einwilligung auf eine andere Stelle
versetzt werden dürfe. Dieser völlig neue Grundsatz wurde aber, wie alles,
was aus Belgien kam, von dem rheinischen Richterstande mit Frohlocken
aufgenommen, dann durch den scharfen Westwind dieser Jahre auch in
die alten Provinzen hinübergetragen. Da nun die neuen Disziplinar-
gesetze dem Justizminister die Versetzung der Richter, im Interesse des
Dienstes oder auch zur Strafe, erlaubten, so erhob der Stadtgerichtsrat
Heinrich Simon in Breslau, ein Fanatiker des juristischen Formalismus,
seine donnernde Stimme, um mit dialektischer Kunst und zeitgemäßem
Pathos zu erweisen, diese Neuerung zerstöre einen Grundpfeiler preußischer
Freiheit. Er nahm deshalb seinen Abschied und führte noch einen groben
Federkrieg mit dem alten Kamptz, der, begreiflich genug, für das Mini-
sterium auftrat. Ebenso begreiflich, daß die liberale Presse sich für Simon
begeisterte. Unbekümmert um das preußische Landrecht, erklärte sie ihre
vernunftrechtlichen Schlagwörter kurzerhand für geltendes Recht, und weil
das Mißtrauen gegen jede Regierung für freisinnig galt, so ward dem
unglücklichen Könige auch noch angedichtet, daß er die Rechtspflege ver-
fälschen wolle. In Wahrheit blieb die Selbständigkeit des preußischen
Richterstandes nach wie vor ganz unangetastet, ja sie wurde nicht. selten
schon zu Parteizwecken mißbraucht, seit der Geist der Opposition in alle
Kreise des Beamtentums unaufhaltsam eindrang. Als das Paderborner
Oberlandesgericht den wegen eines radikalen Gedichtes angeklagten Publi-
zisten Lüning freisprach, da fügten die pflichtvergessenen Richter ihrem