Liberale Schriften und Versammlungen. 603
sich von vornherein in einer ungünstigen Defensive; siegreich in der Kritik
glaubten sie doch selbst nicht recht an die Lebenskraft der halbfertigen
ständischen Institutionen. Nun gar die gelehrten Bücher des ehrlichen
Lancizolle über Preußens Königtum und Landstände klangen schon fast
wie eine Stimme aus dem Grabe; der treue Hallerianer sprach wie vor
Zeiten Schmalz und Marwitz, von den verschiedenen „Staaten“ des könig-
lichen Hauses, den modernen Staat und seine Rechtseinheit hielt er für
eine leere Abstraktion. Schwereren Schaden brachte der Sache des Königs
der alte Todfeind der Liberalen Kamptz, der jetzt im Ruhestande seiner
schreibseligen Feder freien Lauf ließ und in einer ganzen Reihe staatsrecht-
licher Abhandlungen, auch in einer wohlfeilen, für die Masse bestimmten
Flugschrift „das wahre königliche Wort Friedrich Wilhelms III.“ immer
wieder bewies: nichts, gar nichts hätte der alte König seinem Volke ver-
sprochen. Wußte der ergraute Minister wirklich nicht mehr, daß Harden-
berg, der Urheber der Verordnung vom 22. Mai, auf das bestimmteste
erklärt hatte, diese Verordnung enthalte eine feierliche königliche Zusage?5)
Möglich immerhin, daß er in seinem wilden Fanatismus die Wahrheit
zu sagen glaubte; noch gewisser aber, daß die unsäglich groben Schriften
des verwünschten Demagogenjägers, der sich eigenmächtig zum Verteidiger
der Krone aufwarf, die Liberalen gegen den Monarchen selbst erbitterten.
Zugleich bekundete sich der ungeduldige politische Tatendrang in unzäh-
ligen Versammlungen. In Königsberg entstand ein großer Bürgerverein,
der zum ersten Male die Handwerker mit den Gelehrten zusammenführte.
Als er aufgelöst wurde, da zogen die Genossen, 6000 Köpfe oder mehr, all-
wöchentlich nach dem Böttchershöschen draußen vor den Toren, und jeder,
den der Geist trieb, hielt unter freiem Himmel eine europäische Rede.
Als die Polizei auch dawider einschritt, ließ Jacoby eine grimmige „Pro-
vokation auf rechtliches Gehör“ drucken. In Breslau versammelten sich
die Liberalen auf den neuen Bahnhöfen, nachher in einer städtischen Res-
source; auch hier fehlte es nicht an Auflösungen und Protesten, aber hinter
diesen harmlosen Kundgebungen stand schon eine radikale Partei, die ein-
mal, zur Feier des königlichen Geburtstags, durch zuchtlose Frechheit ihr
Dasein bekundete. In Halle pflegte die ehrenfeste Bürgerschaft auf der
Giebichensteiner Weintraube nationale Erinnerungstage zu feiern; die licht-
freundliche Bewegung begann schon zu ebben, das politische Pathos aber
erklang mächtig aus den begeisternden Reden Max Dunckers. In Stral-
sund hielt der geistreiche Arzt v. Haselberg Vorträge über die Zu-
stände der Gegenwart. Der Kölnische Karneval von 1844 war nichts als
eine politische Satire auf die Regierung, die Zensur, die Gesetzbücher, und
selbst der furchtlose, liberale General Friedrich Gagern fand, eine solche
Anarchie der Geister und der Tendenzen könne nicht lange dauern. Und so
*) S. o. III. 236.