Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Liberale Schriften und Versammlungen. 603 
sich von vornherein in einer ungünstigen Defensive; siegreich in der Kritik 
glaubten sie doch selbst nicht recht an die Lebenskraft der halbfertigen 
ständischen Institutionen. Nun gar die gelehrten Bücher des ehrlichen 
Lancizolle über Preußens Königtum und Landstände klangen schon fast 
wie eine Stimme aus dem Grabe; der treue Hallerianer sprach wie vor 
Zeiten Schmalz und Marwitz, von den verschiedenen „Staaten“ des könig- 
lichen Hauses, den modernen Staat und seine Rechtseinheit hielt er für 
eine leere Abstraktion. Schwereren Schaden brachte der Sache des Königs 
der alte Todfeind der Liberalen Kamptz, der jetzt im Ruhestande seiner 
schreibseligen Feder freien Lauf ließ und in einer ganzen Reihe staatsrecht- 
licher Abhandlungen, auch in einer wohlfeilen, für die Masse bestimmten 
Flugschrift „das wahre königliche Wort Friedrich Wilhelms III.“ immer 
wieder bewies: nichts, gar nichts hätte der alte König seinem Volke ver- 
sprochen. Wußte der ergraute Minister wirklich nicht mehr, daß Harden- 
berg, der Urheber der Verordnung vom 22. Mai, auf das bestimmteste 
erklärt hatte, diese Verordnung enthalte eine feierliche königliche Zusage?5) 
Möglich immerhin, daß er in seinem wilden Fanatismus die Wahrheit 
zu sagen glaubte; noch gewisser aber, daß die unsäglich groben Schriften 
des verwünschten Demagogenjägers, der sich eigenmächtig zum Verteidiger 
der Krone aufwarf, die Liberalen gegen den Monarchen selbst erbitterten. 
Zugleich bekundete sich der ungeduldige politische Tatendrang in unzäh- 
ligen Versammlungen. In Königsberg entstand ein großer Bürgerverein, 
der zum ersten Male die Handwerker mit den Gelehrten zusammenführte. 
Als er aufgelöst wurde, da zogen die Genossen, 6000 Köpfe oder mehr, all- 
wöchentlich nach dem Böttchershöschen draußen vor den Toren, und jeder, 
den der Geist trieb, hielt unter freiem Himmel eine europäische Rede. 
Als die Polizei auch dawider einschritt, ließ Jacoby eine grimmige „Pro- 
vokation auf rechtliches Gehör“ drucken. In Breslau versammelten sich 
die Liberalen auf den neuen Bahnhöfen, nachher in einer städtischen Res- 
source; auch hier fehlte es nicht an Auflösungen und Protesten, aber hinter 
diesen harmlosen Kundgebungen stand schon eine radikale Partei, die ein- 
mal, zur Feier des königlichen Geburtstags, durch zuchtlose Frechheit ihr 
Dasein bekundete. In Halle pflegte die ehrenfeste Bürgerschaft auf der 
Giebichensteiner Weintraube nationale Erinnerungstage zu feiern; die licht- 
freundliche Bewegung begann schon zu ebben, das politische Pathos aber 
erklang mächtig aus den begeisternden Reden Max Dunckers. In Stral- 
sund hielt der geistreiche Arzt v. Haselberg Vorträge über die Zu- 
stände der Gegenwart. Der Kölnische Karneval von 1844 war nichts als 
eine politische Satire auf die Regierung, die Zensur, die Gesetzbücher, und 
selbst der furchtlose, liberale General Friedrich Gagern fand, eine solche 
Anarchie der Geister und der Tendenzen könne nicht lange dauern. Und so 
  
*) S. o. III. 236.
	        
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