Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

612 V. 8. Der Vereinigte Landtag. 
Zurückweisung des ungenügenden königlichen Gnadengeschenks. Der Nei— 
denburger Kreistag faßte sogar den Beschluß, die Abgeordneten sollten 
sich für inkompetent erklären, solange ihnen nicht ihr Recht würde, und 
im Kreise Strasburg begann der zungenfertige junge Gutsbesitzer v. Hen- 
nig seine liberale Laufbahn mit einem ähnlichen Versuche.“) 
Das Lärmzeichen für diese Unversöhnlichen gab Heinrich Simon mit 
seiner Flugschrift: Annehmen oder Ablehnen? Er hatte bei dem Kampfe 
gegen die Disziplinargesetze Mut und Festigkeit, aber auch viel spitzfindige 
Advokatenkünste gezeigt; die Juristen schätzten seine brauchbaren, mehr 
durch Fülle als durch Vergeistigung des Stoffes ausgezeichneten Hand- 
bücher über preußisches Staatsrecht. Als Neffe des alten um die rhei- 
nische Rechtspflege hochverdienten Gerichtsrats Simon konnte er bei den 
Liberalen des Westens von vornherein freundliches Gehör erwarten; und 
da ihn die Juden, trotz der Taufe, noch immer zu ihren Leuten rechneten, 
so erfreute er sich in allen Zeitungen einer beflissenen Verherrlichung, 
welche selbst seinem hohen Selbstgefühle genügte. Doch muß auch in 
seiner Persönlichkeit ein eigentümlicher Reiz gelegen haben, der sich aus 
seinen trockenen juristischen Schriften nicht erraten läßt. Zwei feindliche 
Dichterinnen, Ida Hahn-Hahn die geliebte und Fanny Lewald die ver- 
schmähte, beteten ihn mit gleicher Inbrunst an, und selbst seinem Gegner 
Radowitz erschien er bei flüchtiger Reisebekanntschaft sofort als ein un- 
gewöhnlicher Mann. Seine neueste Schrift verdiente freilich ihren Ein- 
tagsruhm in keiner Weise, sie brachte nichts vor als das leere Entweder — 
Oder des Radikalismus. „Wir baten dich um Brot und du gibst uns 
einen Stein“ — so begann er gleich, und entwickelte dann die längst 
überwundene privatrechtliche Theorie, wonach die ständische Verfassung 
ein Vertrag zwischen Krone und Volk sein sollte. Er behauptete, was 
einem gewiegten Juristen doch kaum zu verzeihen war: das Patent „nehme 
dem Volke seine wenigen staatlichen Rechte“; er lobte sogar das suspen- 
sive Veto Norwegens, da „ein einzelner“ doch nicht mehr gelten dürfe 
als der Wille der Millionen, und mahnte den König, er möge brechen 
mit der Ansicht, daß ihm die Krone von Gott gegeben sei, und sich viel- 
mehr halten an den Wahlspruch: Volkes Stimme ist Gottes Stimme! 
Friedrich Wilhelm war empört, er verlangte im ersten Zorne Absetzung 
der Zensoren, die das „Verbrechen“ begangen hätten „solch Buch nicht 
konfiszieren zu lassen“ — bis sich dann herausstellte, daß die Schrift als 
zensurfreies Zwanzigbogenbuch in Leipzig erschienen war.*) Die grobe 
Handgreiflichkeit der Simonschen Vertragstheorie mußte viele Halbgebil- 
dete überzeugen. Zu weiterer Belehrung ließ dann Simons Verleger 
noch eine „Parallele der preußischen Verfassung mit den Verfassungen 
*) Berichte des Reg.-Präsidenten Wallach, 29. April, und v. Nordenflycht, 7. April 
1847 an Bodelschwingh. 
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 15. März 1847. 
 
	        
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