Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

832 V. 8. Der Vereinigte Landtag. 
der Ringe echt ist, wurde ganz gedankenlos ausgelegt, als wäre Lessing 
selber ebenso stumpfsinnig gewesen wie seine Erklärer, als hätte er den 
gewalttätigen Islam oder das längst zur Mumie erstarrte Judentum wirk— 
lich der Religion der Liebe und der Freiheit gleich stellen wollen. In der 
Hauptstadt herrschte seit dem Adressensturme der Lichtfreunde wieder fast 
unumschränkt jene selbstgefällige Aufklärung, welche einst, zu Nicolais 
Zeiten, ihren Ausdruck gefunden hatte in den echt berlinischen Versen: 
„Daß Gott sei, lehrte Moses schon; doch den Beweis gab Moses Men— 
delssohn.“ Humboldt und sein Kreis wollten als unbedingte Verehrer 
der französischen Revolution in jeder Beschränkung der politischen Rechte 
der Israeliten nichts sehen als Glaubensdruck und finstere Barbarei. Leider 
kannte der große Reisende sein eigenes Vaterland weit weniger als Mexiko 
oder Sibirien. Er übersah, daß in Preußen nach Verhältnis mindestens 
achtmal mehr Juden lebten als in Frankreich, und daß diese Israeliten 
dem polnischen Stamme angehörten, nicht, wie damals noch die Mehrzahl 
der französischen Juden, dem bildsameren, den Abendländern näher stehen— 
den spanischen Judenstamme. Da er selbst mehr Weltbürger als Deutscher 
war, so entging ihm auch das allerwichtigste Bedenken: daß die Deutschen 
leider nicht jenen schönen instinktiven Nationalstolz besaßen, der in Frank— 
reich jedes fremde Volkstum zwang, sich der nationalen Sitte unbedingt zu 
unterwerfen. 
Unterdessen hatte das deutsche Judentum einen tapferen, beredten 
Vorkämpfer gefunden an dem Hamburgischen Juristen Gabriel Riesser, 
einem edlen, vaterländisch gesinnten Manne, dem seine Freunde nachrühm- 
ten, in ihm sei das Recht Gemüt geworden. Die Gleichberechtigung seiner 
Stammgenossen war ihm Herzenssache; seit dem Anfange der drei- 
ßiger Jahre vertrat er sie, oft heftig, aber immer ehrenhaft, in seiner 
Zeitschrift „der Jude“ und in zahlreichen Flugschriften. Selber ein ge- 
mäßigter Liberaler, faßte er mutig den Stier bei den Hörnern und be- 
kämpfte namentlich die badischen Liberalen. Er wußte wohl, daß seine 
Stammgenossen, nur wenn sie durchaus zu Deutschen wurden, das gleiche 
Recht verlangen durften; doch da er selbst so grunddeutsch empfand wie 
sein wackerer Freund M. Veit in Berlin und die anderen gebildeten Juden 
seines näheren Umgangs, so behauptete er kurzweg, die deutschen Juden 
hätten ihrer alten Nationalität schon längst entsagt. Hier lag die Schwäche 
seiner Ausführungen; er setzte voraus, was zu beweisen war. Wären alle 
deutschen Juden wirklich so gesinnt gewesen wie dieser begeisterte Patriot, 
dann hätte ihre Gleichberechtigung in unserem weitherzigen Volke keinen 
Widerstand gefunden. 
Die Landtagsverhandlungen litten, wie noch heute jeder Streit um 
die Judenfrage, unter einer rechtlichen Unklarheit. Jude im Sinne des 
Rechts war nur der Bekenner der mosaischen Religion; wer die vollstän- 
dige Gleichberechtigung der Juden bekämpfte, geriet also leicht in den
	        
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