Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Die Tschechen. 713 
fühlten sich die Tschechen nicht sicher, und da der Zar mit dem Papste die 
Eigentümlichkeit teilte, daß die Nationen ihn um so mehr verehrten, je 
weiter sie von ihm entfernt lebten, so wurde Böhmen die Pflanzstätte des 
Panslawismus. Mit der Begeisterung für die Wenzelskrone und den 
weißen Löwen verbanden sich unklare Träume von der unermeßlichen Zu— 
kunft der großen slawischen Völkerfamilie, die jetzt erst ihren Morgen er— 
lebe, während die Deutschen schon in das Mittagslicht, die Romanen schon 
in die Abenddämmerung ihrer Geschichte eingetreten seien. Derweil dieser 
nationale Kampf den Landfrieden bedrohte, fanden sich die beiden feind— 
lichen Völker in den liberalen Zeitwünschen doch immer wieder zusammen. 
Der Prager Landtag forderte Reform des Hypothekenwesens, Ablösung der 
Roboten, Aufhebung des Lottos, ja sogar eine sehr bescheidene Preßfreiheit, 
er wagte mehrmals seine Beschwerden durch Abgesandte dem Kaiser selbst 
zu überreichen, was seit einem halben Jahrhundert nicht mehr geschehen 
war. Solche Lebenszeichen der alten, schon ganz tot geglaubten Postulaten- 
landtage erschreckten den Staatskanzler, und er beschäftigte sich wieder 
mit der Frage, die er schon vor dreißig Jahren aufgeworfen hatte, ob 
man nicht den Ständen aller Kronländer in einem kleinen Ausschusse 
eine unschädliche gemeinsame Vertretung schaffen müsse. Doch auch jetzt 
wagte er nicht, den alten Gedanken zu verwirklichen. 
Das alles bedeutete noch wenig neben dem Sturme der nationalen 
Leidenschaften, der die Länder der Stephanskrone durchtoste und die waf- 
fengewaltigere Hälfte der Monarchie von dem Kaiserstaate loszureißen 
drohte. Obgleich Metternich seit seiner Ehe mit Melanie Zichy den unga- 
rischen Magnaten etwas näher getreten war, so hielt er doch nie für nötig, 
die Nationalitäten des Kaiserreichs in ihrer Eigenart kennen zu lernen; er 
urteilte über die subgermanischen „Bedientenvölker“ mit demselben ver- 
ständnislosen Hochmut wie die Wiener Possendichter, die jeden Ungarn als 
einen Tölpel, jeden Tschechen als einen kriechenden Schuft verhöhnten. 
Dem preußischen Gesandten sagte Metternich oft: eingefleischte Dummheit 
ist der eigentliche Nationalcharakter der Ungarn. Und doch verstand der 
in langen Kämpfen parlamentarisch geschulte magyarische Adel sein Über- 
gewicht über die anderen Völker der Stephanskrone mit maßlosem natio- 
nalem Hochmute und zugleich mit der erfahrenen Klugheit eines Herren- 
volkes zu behaupten. Weder die Südslawen in den Nebenlanden, die schon 
von einem dreieinigen Königreich Illyrien träumten, noch die Slowaken in 
den Karpathen noch die Deutschen zeigten sich der magyarischen Herrscher- 
kunst gewachsen. Nur die treuen protestantischen Sachsen Siebenbürgens 
und die Kolonisten im Banat hielten fest an ihrem deutschen Volkstum, die 
Schwaben des westlichen Ungarns hatten sich allezeit durch fremdbrüder- 
lichen Schwachsinn ausgezeichnet. Die Juden aber, die hier im Lande 
der wirtschaftlichen Sorglosigkeit für unentbehrlich galten, witterten schon, 
woher der Wind wehte, und drängten sich an die Magyaren heran.
	        
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