714 V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.
Noch im Jahre 1833 hatte der Reichstag die Frage aufgeworfen, ob
nicht zur Besprechung der großen gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen
eine Notabelnversammlung aus Ungarn und den deutsch-böhmischen Kron—
ländern einberufen werden sollte; die Staatskonferenz war jedoch über
diesen Vorschlag, der für die Einheit des Kaiserstaates vielleicht folgen—
reich werden konnte, mit gewohntem Stumpfsinn hinweggegangen, und
seitdem zog Ungarn ganz seines eigenen Weges. Ungarn war nicht, son—
dern wird erst, so sagte der gefeierte „größte der Ungarn“, Graf Stephan
Szechenyi. Mit bestimmter politischer Absicht und mit bewunderungs—
würdiger Tatkraft, so wie einst die Holländer ihren Seemannsdialekt
zur Schriftsprache ausgebildet hatten, suchten die Magyaren durch eine
rührige Literatur, durch Schulen, Theater, Zeitungen, durch zahllose ge—
meinnützige Unternehmungen ihr unfertiges Volkstum zu der Höhe der
Kulturvölker emporzuheben, das deutsche Ofen ward bald von dem ma-
gyarisch-jüdischen Pest weit überflügelt. Der ungarische Parlamentaris-
mus erlebte seine Blütezeit. Große Rednertalente traten auf: neben
Szechenyi der geistreiche politische Schriftsteller Graf Eötvös, dann der
schlichte kleine Landedelmann Franz Deak, der bald allgemein als das
gute Gewissen der Nation verehrt wurde, und, alle übertobend, der feurige
Demagog Ludwig Kossuth. Drei Ziele standen der nationalen Partei
mehr oder minder deutlich vor Augen: Herrschaft des Magyarentums,
Selbständigkeit der Stephanskrone neben den westlichen Kronländern, end-
lich Umwandlung der schwerfälligen avitischen Ständeverfassung in ein
modernes Repräsentativsystem. Auf dem Reichstage von 1843 errang sie,
wesentlich durch Kossuths Verdienst, den entscheidenden Erfolg: die neu-
trale lateinische Staatssprache, die seit Jahrhunderten die Völkerschaften
der Stephanskrone in erträglichem Frieden beisammen gehalten hatte,
wurde beseitigt und durch die Sprache des magyarischen Herrenvolkes er-
setzt. Die gute Zeit war dahin, da der Bauer den Edelmann mit dem alt-
gewohnten: bonum matutinum domine! begrüßte. Obgleich das Deutsche
sich nach dem unzerstörbaren Rechte der überlegenen Bildung noch immer
als die allgemeine Verkehrssprache behauptete, so sollten doch die Deut-
schen, die Slawen, die Rumänier sich fortan einer ihnen ganz unbekannten,
erst halb entwickelten Amtssprache bedienen, und im Reichstage konnte
die wort= und bilderreiche nationale Beredsamkeit, die bisher durch das
schwerfällige Latein doch einigermaßen gedämpft worden war, sich fortan in
der eigentümlich rollenden, polternden Heftigkeit magyarischer Sprech-
weise ganz ungezügelt ergehen.
Ein Krater nationaler Zwietracht tat sich auf, die nichtmagyarische
Mehrheit des Königreichs fühlte sich tödlich beleidigt, der Agramer Sonder-
landtag verlangte für sich sofort die kroatische Sprache. Die siegestrunkenen
Magyaren aber eilten vorwärts, von einer nationalen Forderung zur
anderen. In dem streng calvinischen Kleinadel ward der alte Haß gegen