Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

734 V. 10. Vorboten der europäischen Revolution. 
desreform, und in der Schweiz bekämpfte er leidenschaftlich politische Ge— 
danken, die doch schließlich auf dasselbe Ziel hinausgingen. Wie oft hatte 
sein Vater einst jeden Eingriff der Westmächte in die deutsche Bundespolitik 
tapfer zurückgewiesen, obgleich die Hauptartikel der Deutschen Bundesver- 
fassung doch auch in der Wiener Kongreßakte verzeichnet standen; und nun 
verlangte der Sohn gemeinsamen Kampf der Großmächte für die unbe- 
schränkte Souveränität von Uri, Schwyz und Unterwalden! Selbst General 
Gerlach, der die „germanomanischen“ Bundesreformpläne seines königlichen 
Herrn schon viel zu kühn fand, konnte die unabweisbare Frage nicht 
unterdrücken: mit welchem Rechte dürfen wir die Westmächte der deutschen 
Bundesreform fern halten, wenn wir sie selbst zur Einmischung in die 
schweizerischen Bundeshändel auffordern? 
Während der König also von einem großen Kreuzzuge der europäischen 
Legitimität wider die radikalen Eidgenossen träumte, verabsäumte er seine 
nächsten landesherrlichen Pflichten gegen das Juraländchen, das seinem 
Herzen am teuersten war und seine schweizerische Politik doch wesentlich 
bestimmte. Mit überschwenglichen Worten lobte er „das wahrhaft erbau- 
liche Betragen, die herrliche reine christliche Gesinnung, die verehrungs- 
würdigste Haltung meines teueren geliebten Neuenburger Landes.“) Und 
er hatte Grund, sich dieser Getreuen zu freuen. Das kleine Fürstentum 
lebte glücklich dahin, eine Aristokratie mit demokratischen Formen, gleich 
dem alten Rom, musterhaft verwaltet, mit allgemeinem Stimmrecht für 
den gesetzgebenden Körper, aber mit unentgeltlichen ÄAmtern, die dem- 
nach ganz in den Händen der reichen Herrengeschlechter blieben. Die 
Freiheit der Niederlassung und des Gewerbebetriebs war so unbeschränkt 
wie nirgends sonst in der Schweiz; eine Menge von Fremden, zumeist 
Schweizer, hatten sich in den Fabrikstädten Locle und La Chaux de Fonds 
angesiedelt; ein volles Drittel der Bevölkerung, mehr als in irgend einem 
anderen Kanton bestand aus Ausländern. Die alten, durch Talent und 
überlieferte Herrscherkunst ausgezeichneten Familien verdienten sich ihre 
Machtstellung täglich durch neue Opfer; Armenhäuser, Irrenanstalten, 
gemeinnützige Stiftungen jeder Art bezeugten den Bürgersinn der Pour- 
tales, Meuron, Rougemont. Der Führer der Aristokratie, Baron Cham- 
brier, der langjährige Gesandte des Fürstentums bei der Tagsatzung, galt 
bei Freund und Feind für einen der ersten politischen Redner der Schweiz. 
Mit rührender Liebe hingen diese ehrenfesten Royalisten an ihrem Herr- 
scherhause; sie brachten den Namen des Legitimismus, der in Frankreich 
und Spanien durch so mannigfache Sünden entwürdigt war, wieder zu 
Ansehen, und selbst als sie nachher von ihrem Fürsten preisgegeben wurden, 
haben sie kaum jemals öffentlich ein Wort des Vorwurfs gegen die Hohen- 
zollern geäußert. Aber jene so gastfrei aufgenommenen Fremden bildeten 
  
*) König Friedrich Wilhelm an Bunsen, 11. Nov. 1847.
	        
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