Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Ministerium Thiers. 73 
tigte den persönlichen Charakter des Monarchen mit einer Unehrerbietigkeit, 
welche dies illegitime Königtum nicht ertragen konnte. Timon-Cormenin, 
seit Courriers Tode der wirksamste Publizist der Radikalen, schrieb die 
wütenden „Fragen eines Jakobiners“; er hielt den Franzosen vor, 
wie viel unfreier sie seien als die Preußen, denen ihr absoluter König die 
altherkömmliche Prinzessinnensteuer regelmäßig erlassen habe. Die Dota- 
tion ward verworfen, das Ministerium Soult trat zurück, und durch die 
liberale Opposition emporgehoben bildete Thiers am 1. März ein neues 
Kabinett — der Staatsmann, der von jeher dem Bürgerkönige besonders 
widerwärtig und in der gegenwärtigen Kriegsgefahr dreifach unwillkommen 
war. Auch die vier Mächte verhehlten ihr Mißtrauen nicht. Graf Maltzan 
schrieb aus Wien schwer besorgt: „die Grundsätze von 1830 sind wieder 
am Ruder,“) und der französische Gesandte auf der Londoner Konferenz 
sah sich fortan noch weniger rücksichtsvoll als bisher behandelt. Er fühlte, 
wie die vier hinter seinem Rücken berieten. 
Thiers stand bei den Höfen im Rufe eines radikalen Chauvinisten, 
weil er zur Zeit der Juli-Revolution für die reine Parlamentsherrschaft 
gearbeitet, während des Karlistenkrieges sehr übermütig geredet und durch 
seine Geschichtswerke die napoleonische Legende mächtig gefördert hatte. 
Indes war der kluge, bildsame Mann, obwohl noch weit entfernt von 
der ruhigen Weisheit seines Alters, doch schon durch die Erfahrung etwas 
gereift. Die peinliche diplomatische Lage, die er vorfand, war nicht durch 
ihn verschuldet, sondern durch den König. Als er die Regierung übernahm, 
hegte er noch keineswegs kriegerische Absichten; dem ungleichen Kampfe mit 
vier Großmächten dachte er sein leidenschaftlich geliebtes Vaterland nicht 
auszusetzen. Am wenigsten wollte er an dem englisch-französischen Bünd- 
nis rütteln, das ihm für den Hort der Bürgerfreiheit galt. Darum 
ließ er durch den Gesandten Guizot dem englischen Hofe ernst, aber 
freundschaftlich erklären: zur Integrität der Türkei gehöre die Macht 
des Paschas so gut wie die Macht des Sultans, und ohne Syrien könne 
der Agypter nicht bestehen. Nachdrücklich verwahrte er sich gegen die be- 
waffnete Einmischung Europas, die den alten Grundsätzen der Westmächte 
offenbar widerspreche. *7) Und allerdings bewährte Palmerston nur von 
neuem den grundsatzlosen Wankelmut seiner Staatskunst, wenn er, der 
so oft die Lehre der Nichteinmischung feierlich verkündigt hatte, jetzt zu 
den Ansichten des Troppauer Kongresses zurückkehrte und die gewaltsame 
Intervention der Großmächte wider den ägyptischen Rebellen empfahl. 
Thiers' Warnungen waren ehrlich gemeint; denn wie alle Franzosen 
überschätzte er die Macht Mehemed Alis bei weitem und fürchtete, der 
Pascha würde der Einmischung Europas einen so hartnäckigen Widerstand 
  
*) Maltzans Bericht, 4. März 1840. 
*“) Berichte von Bülow, London 17. März, 3. Apr., von Arnim, Paris 20. Apr. 1840.
	        
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