Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

88 V. 2. Die Kriegsgefahr. 
Die Gesinnung der Nation sprach sich so unwiderstehlich aus, daß 
selbst Jakob Venedey, der Häuptling der Pariser „Geächteten“, der abge- 
sagte Feind Preußens, nicht umhin konnte, in seinem phrasenreichen Buche 
„der Rhein“ ehrlich einzugestehen, die Rheinfrage dürfe für deutsche Män— 
ner keine Frage sein. Sogar in Osterreich regte sich zuweilen das deutsche 
Blut. Auf den Straßen Wiens wurde das Rheinlied gesungen, und 
für den Österreichischen Beobachter, der vor kurzem noch die höchst- 
gefährliche Idee der deutschen Einheit so ingrimmig verfolgt hatte, schrieb 
jetzt der junge Liberale Franz Schuselka die „deutschen Worte eines Oster- 
reichers“. Von den Gegnern wagten sich nur einzelne mit der Sprache 
heraus; so W. Cornelius, der Demagog aus den Hambacher Zeiten, der 
ließ in einem bissigen Gedichte den Vater Rhein seinen Sängern antworten: 
„nennt mich weder deutsch noch frei.“ Heinrich Heine fühlte sich wie be- 
täubt, als der kunstvolle Prachtbau der welschen Phrasen des letzten Jahr- 
zehntes so jählings zusammenbrach und die verhaßten Teutonen sich so 
ungebärdig wider sein geliebtes Frankreich erhoben; indessen zog er vor, 
für jetzt noch klüglich zu schweigen. 
Der fremdbrüderliche Liberalismus der dreißiger Jahre war mit 
einem Schlage vernichtet. Niemand empfand dies schwerer als Rotteck, 
den die tragische Gerechtigkeit des Schicksals eben jetzt, im November 1840, 
inmitten der Lärmrufe der teutonischen Kriegsbegeisterung aus dem 
Leben abberief. Auf seine Weise hatte der ehrliche Doktrinär sein Vater- 
land immer geliebt; aber die Möglichkeit eines Krieges gegen das liberale 
Frankreich war ihm während der letzten Jahre ganz unfaßbar geworden. 
In der verwandelten Zeit fand er sich nicht mehr zurecht, und noch auf 
seinem Sterbebette fragte er traurig: in welche Hände wird nun das Ver- 
nunftrecht kommen? Er ahnte nicht, daß diese Hände sich niemals finden 
sollten. Die schöpferische Wissenschaft war über die Träume des Ver- 
nunftrechts längst hinweggeschritten, die verständigen Liberalen begannen 
schon, nach Dahlmanns Vorgang, ihre Ideale den gegebenen Zuständen 
anzupassen; die jungen Schwarmgeister aber, die noch an das Wahnbild 
eines unwandelbaren, in den Sternen geschriebenen Rechtes glaubten, 
gingen weit über Rotteck hinaus, sie hofften auf ein Reich der unbedingten 
Freiheit und Gleichheit. So starb der Führer des badischen Liberalismus 
zur rechten Zeit für seinen Ruhm, in einem Augenblicke, da er den Deut- 
schen nichts mehr sein konnte. 
Zum ersten Male seit unvordenklichen Zeiten war die deutsche Nation 
mit ihren Fürsten ganz einig, und Metternich, der jetzt im Alter die 
Dinge bequem zu nehmen liebte, meinte zufrieden, diese nationale Be- 
wegung sei ganz unberührt von den revolutionären Gedanken der Be- 
freiungskriege. Zar Nikolaus dagegen sagte besorgt zu dem preußischen 
Gesandten, es scheine ratsam, die stürmische nationale Gesinnung der 
Deutschen zu überwachen, denn sie äußere sich am lautesten in den Kreisen
	        
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