EINLEITUNG.
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Begriff des Interregnums.
Die Wissenschaft des allgemeinen Staatsrechts betrachtet den Staat
in allen Phasen seiner Entwicklung. Sie findet ihre Hauptaufgabe
in der Erforschung der Rechtsgrundsätze des bestehenden Staates,
sie untersucht den Staat, wie er ist, wie seine Herrschaft organisirt
ist und ausgeübt wird. Sie behandelt dabei den Staat, wenn auch
mit steter Rücksicht auf seine Entstehung und seine Fortbildungsfähig-
keit, im Wesentlichen doch als den vorhandenen, den ruhenden Körper.
Dabei bleibt sie aber nicht stehen. Sie nimmt zum Gegenstande ihrer
Arbeit auch die Beantwortung der schwierigen Fragen nach dem
Werden und Vergehen der Staaten; sie betrachtet den Staat vor und
bei seiner Geburt und beobachtet ihn in den Augenblicken seines
Endes — sie findet für Staatengründung und Staatenuntergang die
oft verborgenen Sätze festen Rechts. So behandelt sie die Staats-
körper nicht nur in ihrer Ruhe, sondern auch in ihrer Bewegung.
Dieser Weg führt aber die Wissenschaft nothwendig zum Angriff einer
dritten Aufgabe. Sie hat auch die stetigen Regeln des Rechts für
das Leben des Staates: in denjenigen Perioden zu entwickeln, in
denen er zwischen Sein und Vergehen schwankt, in denen das regel-
mässige Zusammenwirken der Kräfte dieses Organismus stockt, oder
in denen erhaltende und zerstörende Mächte um den Sieg über ihn
kämpfen. Denn unfähig oder unwürdig rechtswissenschaftlicher Be-
handlung ist der Staat in keiner Epoche seines Lebens; er duldet
sie, ja er fordert sie auch dann, wenn in ihm der wilde Streit der
Parteien um die Krone tobt, wenn der Feind sein Gebiet siegreich
mit Krieg überzieht, wenn die finsteren Gewalten der Revolution
umsturzlüstern an seinen festesten Säulen rütteln. So versucht sich die
Staatsrechtswissenschaft auch an den Krisen, denen der Staat, wie
TRIEPEL, Interregnum. 1