Full text: Das Interregnum.

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der staatlichen Organisation bewirken, eine Erschütterung des 
Staates selbst in seiner rechtlichen Existenz braucht er nicht zur 
Folge zu haben: auch ohne Fürsten und ohne einen anderen 
Träger der Gewalt bildet das Volk den Staat. 
Aber nicht nur verliert der Staat durch den Eintritt des Inter- 
regnums nicht seine Persönlichkeit, seine Rechtssubjektivität, er bleibt 
auch ferner im Interregnum und darüber hinaus ein und dieselbe 
Person; wir sehen im Zwischenreiche nicht blos einen Staat, son- 
dern denselben Staat, wie zuvor, keinen neuen Staat. Der 
Staat ist für die menschliche und juristische abstrahirende Erkennt- 
niss eine aus einer Summe von Theilen bestehende Einheit!), 
jede Einheit aber ist unabhängig von der Art ihrer Zu- 
sammensetzung, von dem Wechsel ihrer Theile. Das gilt 
zunächst für die Einheiten der leblosen Aussenwelt. Der Rhein- 
strom ist heute derselbe eine Strom, wie vor hundert Jahren, ob- 
schon jetzt kein Tropfen des Wassers von damals mehr in seinem Bette 
fliesst; das Schiff bleibt dieselbe eine Sache, auch wenn es so oft 
ausgebessert wird, dass von den Planken, aus denen es zuerst er- 
baut wurde, keine einzige mehr übrig bleibt.?2) Das gilt aber auch 
für die Einheiten menschlicher Verbände’), für die aus einer Viel- 
heit pbysischer Personen bestehenden Körperschaften. Ihre Einheit 
wurzelt in der Stetigkeit ihres obersten Gemeinzwecks; sie über- 
dauert die Existenz ihrer Theile, weil und so lange, nicht alle ihre 
Gemeinzwecke — denn diese können wechseln, sich verengern, sich 
erweitern — aber ihrehöchsten Gemeinzwecke dieselben bleiben. 
Wir sehen das an der Korporation des Privatrechts, wir sehen es 
an der Gemeinde, an der Kirche, am Staate. Sie alle sind unab- 
hängig von Art und Dauer ihrer Mitglieder; sie bleiben beim 
Wandel ihrer Theile. Sie bleiben in ihrer Einheit, weil der 
Wechsel ihrer Theile keinen Einfluss ausübt auf die Einheitlichkeit 
ihres Gemeinzwecks, so lange die zu dessen Erreichung nothwendige 
konstante Thätigkeit, die Bildung des dazu erforderlichen Gemein- 
willens durch steten Ersatz der abgehenden durch neue Willensfak- 
toren, welcher Art diese auch sein mögen, kontinuirlich erfolgen 
kann. Darum bleibt auch die Integrität aller „monarchisch“, „bureau- 
kratisch“ organisirten Körperschaften, d.h. derjenigen, deren Gemein- 
  
I) JELLINEK, System der subjektiven Öffentlichen Rechte S. 20f. 
2) L. <6 D. de jud. 5, 1. 
3) In der angeführten Digestenstelle heisst es: „et populum eundem hoc 
tempore putari qui abhinc ceutum annis fuissent, cum ex illis nemo nunc viveret“.
	        
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