Full text: Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888.

Tante Luise, die in allem ihr Widerschein war — mir in dieser schwie— 
rigen Zeit ein fester Rückhalt gewesen. In repräsentativer Beziehung 
hatte meine Großmutter wohl etwas Katholisierendes an sich, z. B. 
hatte sie eine Hauskapelle eingerichtet, doch vermochte das nie Ein— 
fluß auf ihre Glaubensrichtung zu gewinnen. Diese Neigungen sind 
zweifellos die Reaktion auf die rationalistische Zeit gewesen, die sie 
miterlebt hatte. 
In späteren Jahren mußte ich meine Großmutter immer am Arm 
führen, wenn sie Cercle abhielt. Damals fanden bei den Hoffesten 
noch Steh= und Sprechcouren statt, die äußerst anstrengend waren. 
Erst nach dem Unfall meiner Großmutter ist der Hof zu Defllier- 
couren übergegangen, wie ich sie zu meiner Zeit grundsätzlich ein- 
geführt habe. Ich habe bei senen Sprechcouren immer die große 
Kunst bewundern müssen, mit der meine Großmutter fedem in hübscher 
FCorm etwas Verbindliches und doch Individuelles zu sagen verstand. 
Sie war in dieser Kunst in ihrer Jugend besonders erzogen worden, 
als sie noch ein vierzehnfähriges Kind war, wurden zu ihrem Unter- 
richt eine Anzahl leerer Stühle aufgestellt, die sie als bestimmte 
Personen zu betrachten und entsprechend anzureden hatte. Ich habe 
das Glück gehabt, meine Großmutter fahrelang führen zu dürfen, 
bis sie infolge ihres Leidens in den Nollstuhl kam und gefahren 
werden mußte. 
Von meinen Besuchen bei der Kaiserin auf ihrem Schloß in 
Koblenz, das sie so sehr liebte und dessen Anlagen am Nhein sie 
selbst geschaffen hatte, werde ich an einer anderen Stelle zu sprechen 
haben. Sie pflegte dort gern den rheinischen Adel heranzuziehen, 
immer bemüht, geistige Brücken zu schlagen. Im Herbst weilte sie 
gewöhnlich in Baden-Baden, wo sie im Meßmerschen Hause zu 
wohnen pflegte. Zu ihrem Geburkskage am 30. September kam 
stets die ganze Familie hin, und es wurden dann schöne Ausflüge 
und Picknicks veranstaltet. Meine Großmutter machte bei diesen 
107
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.