Full text: Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888.

blieb bald stecken und rettete die Situation nur dadurch, daß er schnell 
zum Schluß überging und das Hoch ausbrachte. Da sagte König 
Leopold, langsam und bedeutsam mir ins Ohr flüsternd: „Mein 
lieber Wilhelm, es ist eine schöne Gabe Gottes, wenn einer ein be— 
gnadeter Redner ist!“ 
Das bezeichnendste Erlebnis aber ereignete sich gegen Schluß 
der Tafel. Die Bonbons waren schon herumgereicht, alles wartete 
auf das Erheben der Majestäten, und es trat jene gedämpfte Stille 
ein, die immer diesem Augenblick vorauszugehen pflegt. Nur einer 
sprach weiter: der stocktaube Graf Philipp von Flandern, König 
Leopolds Bruder, der infolge seines Leidens nichts von dem ein— 
getretenen Schweigen bemerkte. Und was war der Inhalt seines 
Gespräches? Mokante Bemerkungen über die Tischgäste! Die Si— 
tuation war unglaublich peinlich. Vergebens versuchte seine Tisch- 
nachbarin, die Gräfin Grünne, Oberhofmeisterin der Königin, ihn 
von seinem Thema abzubringen, er ließ sich nicht beirren. Flehent— 
lich sah sie zum König hinüber. Der aber stieß mich — ich saß 
zwischen den Mafestäten — leicht an und sprach auf Deutsch ruhig 
und langsam die geflügelten Worte: „Mein lieber Neffe, siehst du, 
wie die Gräfin Grünne mich anfleht, ich möge doch die Tafel auf— 
heben? Ich denke gar nicht daran. Ich lasse meinen guten Bruder 
ruhig noch weiterreden. Denn ich erfahre auf diese Weise allerhand 
Dinge, die mir sonst keiner erzählt!“ 
Den Höhepunkt der Festlichkeiten bildete das feierliche Hochamt 
und Tedeum in der ehrwürdigen alten Kathedrale Ste. Gudule. Die 
Masestäten und Mitglieder ihres Hauses sowie ihre fürstlichen Gäste 
gruppierten sich um den Altar auf dem hohen Hochchor. Bon dort 
schweifte der Blick durch die himmelanstrebenden Bogen des wunder- 
baren Baues, zwischen dessen gewaltigen Pfeilern die weltberühmten 
Gobelins das Grau der Steinmassen farbig belebten. Die gesamte 
hohe Gelsstlichkeit beteiligte sich bei dem Zelebrieren, während die 
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