Bei der langen kirchlichen Zeremonie, die von dem würdevollen
Metropoliten von Nowgorod und St. Petersburg sowie den Mit—
gliedern des Heiligen Synod und der hohen Geistlichkeit in ihren
überaus prunkvollen Gewändern, von dem eindrucksvollen russischen
Chorgesang begleitet, zelebriert wurde, stand der kleine Thronfolger,
ein damals sehr zarter Knabe von 14 Zahren, in seiner lichtblauen
Uniform allein vor dem Altar. Mit lauter Stimme verlas er dann
den Eid, dem Zaren und dem Baterlande die Treue zu halten und
die gesetzliche Thronfolgeordnung zu wahren, indessen tiefe Bewegung
alle Anwesenden ergriff. Dann wurden von der hohen Geistlichkeit
Gebete gesprochen, das Tedeum erklang, die Glocken fingen an zu
läuten, und 301 Kanonenschüsse donnerten ihren Gruß in die feier-
liche Handlung. Nachdem noch das „ad multos annos" verkündet
war und die Mitglieder des Heiligen Synod den Mafestäten und
dem Cäsarewitsch ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten, begab sich
die ganze Versammlung in geschlossenem Zuge in den St. Georgs-
saal, wo die Fahnen und Standarten der militärischen Abordnungen
vor dem Thron versammelt waren. Der Cäsarewitsch nahm an
einem kleinen Altar Aufstellung.
Nun trat eine Abordnung großer bärtiger Leibgarde-Kosaken vor
und senkte die uralte reichbestickte Standarte vor dem Thronfolger,
hrem nunmehrigen Hetman. Dieser ergriff einen Zipfel derselben und
sprach in sichtlicher Bewegung, aber mit klarer Sprache, die ihm vor-
gesprochene Formel des Fahneneides nach. Der Augenblick war von
tiefem Eindruck auf die Zuschauer. Man sah viele der Anwesenden
weinen, dem alten eisgrauen Standartenträger tropfte das helle Wasser
in seinen langen Bart. Als dann am Schlusse der Zeremonie das
Elternpaar in tiefer Rührung seinen Sohn umarmte, malte sich allge-
meine Ergriffenheit auf den Gesichtern der Anwesenden. Mancher von
den alten Getreuen mag ein stilles Gebet zum Himmel emporgesandt
haben, daß Gott dem künftigen Zaren gnädig zur Seite stehen möge.
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