Full text: Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888.

Bei der langen kirchlichen Zeremonie, die von dem würdevollen 
Metropoliten von Nowgorod und St. Petersburg sowie den Mit— 
gliedern des Heiligen Synod und der hohen Geistlichkeit in ihren 
überaus prunkvollen Gewändern, von dem eindrucksvollen russischen 
Chorgesang begleitet, zelebriert wurde, stand der kleine Thronfolger, 
ein damals sehr zarter Knabe von 14 Zahren, in seiner lichtblauen 
Uniform allein vor dem Altar. Mit lauter Stimme verlas er dann 
den Eid, dem Zaren und dem Baterlande die Treue zu halten und 
die gesetzliche Thronfolgeordnung zu wahren, indessen tiefe Bewegung 
alle Anwesenden ergriff. Dann wurden von der hohen Geistlichkeit 
Gebete gesprochen, das Tedeum erklang, die Glocken fingen an zu 
läuten, und 301 Kanonenschüsse donnerten ihren Gruß in die feier- 
liche Handlung. Nachdem noch das „ad multos annos" verkündet 
war und die Mitglieder des Heiligen Synod den Mafestäten und 
dem Cäsarewitsch ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten, begab sich 
die ganze Versammlung in geschlossenem Zuge in den St. Georgs- 
saal, wo die Fahnen und Standarten der militärischen Abordnungen 
vor dem Thron versammelt waren. Der Cäsarewitsch nahm an 
einem kleinen Altar Aufstellung. 
Nun trat eine Abordnung großer bärtiger Leibgarde-Kosaken vor 
und senkte die uralte reichbestickte Standarte vor dem Thronfolger, 
hrem nunmehrigen Hetman. Dieser ergriff einen Zipfel derselben und 
sprach in sichtlicher Bewegung, aber mit klarer Sprache, die ihm vor- 
gesprochene Formel des Fahneneides nach. Der Augenblick war von 
tiefem Eindruck auf die Zuschauer. Man sah viele der Anwesenden 
weinen, dem alten eisgrauen Standartenträger tropfte das helle Wasser 
in seinen langen Bart. Als dann am Schlusse der Zeremonie das 
Elternpaar in tiefer Rührung seinen Sohn umarmte, malte sich allge- 
meine Ergriffenheit auf den Gesichtern der Anwesenden. Mancher von 
den alten Getreuen mag ein stilles Gebet zum Himmel emporgesandt 
haben, daß Gott dem künftigen Zaren gnädig zur Seite stehen möge. 
296
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.