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V. ÜMber den Amfang der Kartellbewegung
in Deutschland ist eine vollständige Statistik nicht
vorhanden. Liefmann hat 1897 das Vorhanden-
sein von 345 industriellen Kartellen (einschließlich
Bergbauy festgestellt, wobei also Ringe, Trusts,
Zwischenhändlervereinigungen, Kleingewerbekar-
telle nicht mitgezählt sind. Von 260 Kartellen hat
Liefmann die Entstehungszeit ermittelt; danach be-
standen vor dem Jahre 1865: 4, 1870: 6, 1875:
8, 1879: 14, 1885: 90, 1890: 210, 1896: 260
Kartelle. Seitdem hat ihre Zahl fortgesetzt sehr er-
heblich zugenommen. Eine am 30. Sept. 1905 ab-
geschlossene Statistik, welche in einer Denkschcift
dem deutschen Reichstag vorgelegt wurde, umfaßt
385 kartellähnliche Vereinbarungen. Davon ent-
fallen auf die Kohlenindustrie 19 Verbände, Eisen-
industrie 62, Metallindustrie 11, chemische Industrie
46, Textilindustrie 31, Leder- und Kautschukwaren-
industrie 6, Holzindustrie 5, Papierindustrie 6,
Glasindustrie 10, Ziegelindustrie 132, Industrie
der Steine und Erden 27, Tonwarenindustrie 4,
Nahrungs= und Genußmittelindustrie 17, Elektro-
industrie 2, sonstige 7. Diese 385 Kartelle vereinigen
1200 Betriebe. Die wirkliche Zahl der Kartelle ist
zweifellos noch bedeutend höher und darf, wie es
bei Besprechung der amtlichen Kartellstatistik in
der Reichstagssitzung vom 5. März 1908 geschah,
wohl auf 500 bis 700 veranschlagt werden. Deutsch-
land steht in Bezug auf Zahl der Kartelle jedenfalls
an erster Stelle; auch an einer ganzen Reihe von
internationalen Kartellen ist oder war
Deutschland beteiligt; Liefmann hat 41 solcher
internationalen Kartelle ermittelt. Erwähnt seien
das Träger= und das Schienenkartell, beide auf
Initiative des deutschen Stahlwerksverbandes 1904
gegründet. — Auch über den Umfang der Kartell-
bildung in den außerdeutschen Ländern
liegen keine sichern statistischen Angaben vor. In
Osterreich-Ungarn hat die Kartellbewegung eben-
falls große Fortschritte gemacht und zeigt dort in
den Formen wie in den Wirkungen der Kartellie-
rung große Ahnlichkeit mit derjenigen Deutsch-
lands. Baumgartner und Meszleny (s. Lit. am
Schluß) schätzen die Zahl der österreichischen und
ungarischen Kartelle auf mindestens 100, wovon
etwa die Hälfte auf ausschließlich österreichische
Kartelle entfällt, was auch dem wirtschaftlichen
Übergewicht des Landes entspricht. Viel geringer
wie in Deutschland und Österreich ist die Zahl der
Kartelle in Frankreich, dagegen weist namentlich
Belgien wieder eine verhältnismäßig starke Kartell-
bildung auf. Über das englische Kartellwesen liegen
nur spärliche Nachrichten vor; in England treten
jedenfalls die Vereinigungen von beweglichem
Kapital (investment trusts) und Spekulanten-
ringe (corners) sehr in den Vordergrund gegen-
über den industriellen Kartellen. Allerdings fehlt
es auch an solchen nicht, wenn sie auch hier und vor
allem in den Vereinigten Staaten von Amerika
weniger zahlreich sind wie die oben erwähnten
Trusts und Fusionen. In Rußland, Italien, Spa-
nien und in manchen kleineren europäischen Staa-
ten, ferner in Japan, Indien, Chile, Argentinien
sowie vor allem in Australien finden sich ebenfalls
kartellartige Organisationen.
VI. Über die Wirkungen des Kartell-
wesens besteht keine volle Klarheit. Auch die von
der deutschen Reichsregierung (1902/06) veran-
Kartelle.
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staltete Enquete hat eine solche nicht gebracht.
Man hat festgestellt, daß im Jahre 1902: 385
Kartelle in Deutschland bestanden. Man hat deren
Statuten mitgeteilt und versucht, bei ganzen 14
Kartellen von 385 durch kontradiktorische Ver-
handlungen eine genauere Prüfung vorzunehmen.
Auf Grund der Ergebnisse dieser Enquete sind
dem Reichstage vier Denkschriften zugegangen.
Die erste enthält eine Zusammenstellung der deut-
schen Kartelle mit ihren Satzungen. Die zweite
behandelt die juristische Natur der Kartelle, die
dritte beschäftigt sich mit den Kartellen in der
Kohlenindustrie, die vierte mit dem ausländischen
Kartellrecht. In der dritten Denkschrift wird un-
umwunden zugestanden, daß das kontradiktorische
Verfahren gerade über die wichtigsten und bren-
nendsten Fragen, so vor allem über die Ausfuhr-
preise des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats,
außerordentlich wenig Material ergeben hat. Das
war auch nicht anders zu erwarten. Zunächst war
es bei der Größe des zu untersuchenden Gebietes
ganz ausgeschlossen, daß eine einzige Kommission
in kontradiktorischen Verhandlungen Klarheit
schaffen konnte. Weiterhin war es, da in Deutsch-
land eine Auskunftspflicht nicht besteht, gar nicht
möglich, in kontradiktorischen Verhandlungen den
Dingen immer auf den Grund zu gehen, nament-
lich da hierbei die Abhängigkeit der Abnehmer
vom Syndikat als ihrem Lieferanten eine große
Rolle spielt. Dazu kommt, daß das Material,
das damals ermittelt wurde, inzwischen durch die
Entwicklung der Verhältnisse schon wieder über-
holt ist. Immerhin vermag dieses spärliche Ma-
terial in Verbindung mit dem sonst bekannt ge-
wordenen Tatsachenmaterial ein allgemeines Bild
von der Wirksamkeit und den Wirkungen der
Kartelle zu gewähren. Bei der Verschiedenheit der
Formen bzw. des Grades der Kartellierung ist es
freilich unmöglich, alle Kartelle hinsichtlich ihrer
Wirkungen nach einer Schablone zu beurteilen.
Man muß die Wirkungen im großen und ganzen
feststellen, wie sie sich bei fortgeschrittener Kartel-
lierung für den kartellierten Industriezweig selbst,
für andere, auf ihn angewiesene Industriezweige,
für den Zwischenhandel und das konsumierende
Publikum ergeben müssen.
Was den ersten Punkt angeht, so ist zwar zu-
zugeben, daß den bestehenden Kartellen im all-
gemeinen die — als Mittel zum Zweck — er-
strebte Regulierung der Produktion bzw.
des Absatzes, Herbeiführung größerer Regelmäßig-
keit und Stetigkeit derselben, Verhinderung von
Ülberproduktion, in gewissem Maße gelungen ist.
Anderseits ist aber nicht zu leugnen, daß große
Schwankungen in der Produktion, sogar Krisen
und Zusammenbrüche selbst unter der Herrschaft
der Kartelle nicht ausgeschlossen sind. Anzuerkennen
ist sodann, daß der Einfluß der Kartelle auf tech-
nische, Geschäftsorganisations= und Verkehrsfort-
chritte im großen und ganzen kein ungünstiger
gewesen ist. Inwieweit auch der Endzweck der
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