Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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ler, Maler, Musiker, Bildhauer und Schriftsteller 
suchen als Wirkungskreis mit Vorliebe größere 
Städte auf, mögen die Beweggründe dafür ideeller 
oder materieller Natur sein. 
Das rapide Wachslum der Städte in den letzten 
Jahrzehnten und ihr zunehmender Einfluß auf die 
gesamte wirtschaftliche und geistige Kultur des Volks 
hat neben vielen unbestreitbaren Vorzügen natur- 
gemäß auch eine Reihe von unerfreulichen 
Nebenerscheinungen zur Folge gehabt. Die 
großen Städte sind nämlich nicht nur Zentren rast- 
losen Fleißes und Bildungstriebs, sondern auch 
Stätten tiefgehender sozialer Unzufriedenheit und 
moralischen Elends. Familiensinn und Heimatliebe 
drohen in immer weiteren Kreisen der unteren Be- 
völkerungsschichten zu schwinden und eine schranken- 
lose Genußsucht um sich zu greifen. Das enge 
Zusammenwohnen in Mietskasernen, Arbeitslosig= 
keit, Verbrechen aller Art, Ehescheidungen, Pro- 
stitution, Selbstmord sowie die rückläufige Be- 
wegung der Geburtenzahl sind heute beklagens- 
werte Großstadterscheinungen, von denen das 
platte Land bisher im allgemeinen noch verschont 
geblieben ist. Dem zielbewußten Streben der 
Städte ist es aber schon gelungen, einige dieser 
Mängel zu beheben oder wenigstens zu mildern, 
es sei nur an die anerkennenswerten Erfolge auf 
dem Gebiet der Gesundheitspflege, Arbeitslosen-, 
Armen= und Jugendfürsorge erinnert; und wie 
hier, so wird es mit der Zeit vielleicht auch auf 
geistigem und sittlichem Gebiet möglich sein, mittels 
geeigneter Aufklärungsarbeit und intensiverer Be- 
tätigung derchristlichen Nächstenliebe 
seitens der besitzenden und gebildeten Klassen die 
großstädtischen Bevölkerungsmassen zufriedener und 
glücklicher zu machen. 
II. Die Aufgaben der Städte. Der Wir- 
kungskreis der Städte hat seit der zweiten Hälfte 
des 19. Jahrh. entsprechend ihrer wirtschaftlichen 
und sozialen Entwicklung eine erhebliche Erweite- 
rung erfahren. Sie sind einerseits als Gemeinde- 
verbände befugt, alle dem allgemeinen Wohl ihrer 
Angehörigen dienenden örtlichen Aufgaben in den 
Kreis ihrer Tätigkeit zu ziehen, soweit nicht schwer- 
wiegende Interessen der höheren Selbstverwal- 
tungskörper (Bezirksverbände, Kreise. Provinzen) 
oder des Staats entgegenstehen; anderseits sind 
ihnen als Organen der öffentlichen Verwaltung 
gewisse Obliegenheiten teils durch Reichs= und 
Staatsgesetze, teils durch Verordnungen der Reichs- 
und Staatsbehörden allgemein zugewiesen, deren 
Umfang in den einzelnen Staaten und Städte- 
größen wieder mehr oder weniger verschieden ist. 
Unter den obligatorischen Aufgaben stehen 
diejenigen der allgemeinen Landesverwaltung oben- 
an: Führung der Standesregister und Verwaltung 
der Ortspolizei, soweit diese nicht in den größeren 
Städten besondern staatlichen Polizei= (Preußen) 
oder den daselbst befindlichen Verwaltungsbehörden 
(Baden) übertragen ist und die Gemeinden ledig- 
lich bestimmte Beiträge zu leisten haben. Dazu 
Städtewesen, modernes. 
  
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kommen die Aufstellung der Schöffen= und Ge- 
schworenenliste, der Wählerlisten für die Reichs- 
und Landtagswahlen, die Durchführung der 
großen reichs= und landesstatistischen Erhebungen 
(Volks-, Berufs-, Betriebs= und Viehzählungen), 
die Besorgung von Geschäften für die Militär= 
verwaltung, die Mitwirkung bei der Rechtspflege 
(durch Errichtung und Unterhaltung von Ge- 
meinde-, Gewerbe= und Kaufmannsgerichten, Be- 
stellung von Schiedsmännern und Gemeinde- 
waisenräten), bei der Veranlagung und Erhebung 
der Staatssteuern (Preußen), der Gesundheits- 
verwaltung (Impfwesen und Leichenschau) und der 
Sozialpolitik (vor allem als untere Verwaltungs- 
organe im Arbeiterversicherungswesen). Ferner 
sind sie verpflichtet zum Bau und zur Unterhaltung 
der Ortsstraßen, der Volksschulen und 
zur Bestreitung des ihnen durch die Verwaltung 
des Armenwesens erwachsenen Aufwands. Die 
letzteren Obliegenheiten gehören zu den wichtigsten, 
zugleich aber auch kostspieligsten Aufgaben der 
größeren Städte, die jährlich Hunderte von Mil- 
lionen erfordern. 
Auf dem Gebiet des Unterrichtswesens sind 
die deutschen Städte von jeher weit über den 
Rahmen der gesetzlichen Mindestforderungen hin- 
ausgegangen, indem sie in eifrigem Wettbewerb 
durch Vervollkommnung der Schulhygiene, Er- 
weiterung des wissenschaftlichen Unterrichts und 
Errichtung höherer Schulen das Beste zu leisten 
bestrebt waren. Die Volksschule namentlich erfuhr 
nach allen Richtungen hin eine bessere Ausgestal- 
tung und brachte den Städten wachsende finan- 
zielle Opfer. Der Aufwand der 110 preußischen 
Städte mit mehr als 25.000 Einwohnern betrug 
z. B. für das Volksschulwesen im Jahr 1885: 
30972125 Al, 1905 dagegen 107770.004 M. 
Diese gewaltige Steigerung ist nicht nur auf die 
Zunahme der Bevölkerung und der Volksschul- 
kinder, sondern hauptsächlich auf die größeren 
Ausgaben zurückzuführen, welche heute für jeden 
einzelnen Schüler gemacht werden. Der Durch- 
schnittssatz pro Kopf des Schülers belief sich z. B. in 
Berlin im Jahr 1885 aus 54,88 „M, 1905 dagegen 
auf 94.91 4# in Frankfurt a. M. gar auf 84,24 M 
und 135 Ak. In ähnlicher Weise haben sich die 
Aufwendungen auch bei den mittleren und kleineren 
Städten entwickelt. Man kann wohl ohne Über- 
treibung behaupten, daß das Volksschulwesen in 
den deutschen Städten am vollkommensten aus- 
gebaut ist. Beim Bau der Schulhäuser wird auf 
die Forderungen der modernen Schultechnik und 
Hygiene in weitgehendem Maß Rücksicht genom- 
men. Schulbäder, Schulgärten, Haushaltungs-, 
Handfertigkeits= und Handarbeitsunterricht, Oilfs- 
schulen für Schwachbegabte und Ferienkolonien 
sind Einrichtungen, welchen wir heute in den Volks- 
schulen der meisten größeren Städte begegnen. 
In einzelnen Städten (Mannheim, Karlsruhe) 
wird sogar in den oberen Klassen noch fremd- 
sprachlicher Unterricht (Französisch und Englisch)
	        
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