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ler, Maler, Musiker, Bildhauer und Schriftsteller
suchen als Wirkungskreis mit Vorliebe größere
Städte auf, mögen die Beweggründe dafür ideeller
oder materieller Natur sein.
Das rapide Wachslum der Städte in den letzten
Jahrzehnten und ihr zunehmender Einfluß auf die
gesamte wirtschaftliche und geistige Kultur des Volks
hat neben vielen unbestreitbaren Vorzügen natur-
gemäß auch eine Reihe von unerfreulichen
Nebenerscheinungen zur Folge gehabt. Die
großen Städte sind nämlich nicht nur Zentren rast-
losen Fleißes und Bildungstriebs, sondern auch
Stätten tiefgehender sozialer Unzufriedenheit und
moralischen Elends. Familiensinn und Heimatliebe
drohen in immer weiteren Kreisen der unteren Be-
völkerungsschichten zu schwinden und eine schranken-
lose Genußsucht um sich zu greifen. Das enge
Zusammenwohnen in Mietskasernen, Arbeitslosig=
keit, Verbrechen aller Art, Ehescheidungen, Pro-
stitution, Selbstmord sowie die rückläufige Be-
wegung der Geburtenzahl sind heute beklagens-
werte Großstadterscheinungen, von denen das
platte Land bisher im allgemeinen noch verschont
geblieben ist. Dem zielbewußten Streben der
Städte ist es aber schon gelungen, einige dieser
Mängel zu beheben oder wenigstens zu mildern,
es sei nur an die anerkennenswerten Erfolge auf
dem Gebiet der Gesundheitspflege, Arbeitslosen-,
Armen= und Jugendfürsorge erinnert; und wie
hier, so wird es mit der Zeit vielleicht auch auf
geistigem und sittlichem Gebiet möglich sein, mittels
geeigneter Aufklärungsarbeit und intensiverer Be-
tätigung derchristlichen Nächstenliebe
seitens der besitzenden und gebildeten Klassen die
großstädtischen Bevölkerungsmassen zufriedener und
glücklicher zu machen.
II. Die Aufgaben der Städte. Der Wir-
kungskreis der Städte hat seit der zweiten Hälfte
des 19. Jahrh. entsprechend ihrer wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklung eine erhebliche Erweite-
rung erfahren. Sie sind einerseits als Gemeinde-
verbände befugt, alle dem allgemeinen Wohl ihrer
Angehörigen dienenden örtlichen Aufgaben in den
Kreis ihrer Tätigkeit zu ziehen, soweit nicht schwer-
wiegende Interessen der höheren Selbstverwal-
tungskörper (Bezirksverbände, Kreise. Provinzen)
oder des Staats entgegenstehen; anderseits sind
ihnen als Organen der öffentlichen Verwaltung
gewisse Obliegenheiten teils durch Reichs= und
Staatsgesetze, teils durch Verordnungen der Reichs-
und Staatsbehörden allgemein zugewiesen, deren
Umfang in den einzelnen Staaten und Städte-
größen wieder mehr oder weniger verschieden ist.
Unter den obligatorischen Aufgaben stehen
diejenigen der allgemeinen Landesverwaltung oben-
an: Führung der Standesregister und Verwaltung
der Ortspolizei, soweit diese nicht in den größeren
Städten besondern staatlichen Polizei= (Preußen)
oder den daselbst befindlichen Verwaltungsbehörden
(Baden) übertragen ist und die Gemeinden ledig-
lich bestimmte Beiträge zu leisten haben. Dazu
Städtewesen, modernes.
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kommen die Aufstellung der Schöffen= und Ge-
schworenenliste, der Wählerlisten für die Reichs-
und Landtagswahlen, die Durchführung der
großen reichs= und landesstatistischen Erhebungen
(Volks-, Berufs-, Betriebs= und Viehzählungen),
die Besorgung von Geschäften für die Militär=
verwaltung, die Mitwirkung bei der Rechtspflege
(durch Errichtung und Unterhaltung von Ge-
meinde-, Gewerbe= und Kaufmannsgerichten, Be-
stellung von Schiedsmännern und Gemeinde-
waisenräten), bei der Veranlagung und Erhebung
der Staatssteuern (Preußen), der Gesundheits-
verwaltung (Impfwesen und Leichenschau) und der
Sozialpolitik (vor allem als untere Verwaltungs-
organe im Arbeiterversicherungswesen). Ferner
sind sie verpflichtet zum Bau und zur Unterhaltung
der Ortsstraßen, der Volksschulen und
zur Bestreitung des ihnen durch die Verwaltung
des Armenwesens erwachsenen Aufwands. Die
letzteren Obliegenheiten gehören zu den wichtigsten,
zugleich aber auch kostspieligsten Aufgaben der
größeren Städte, die jährlich Hunderte von Mil-
lionen erfordern.
Auf dem Gebiet des Unterrichtswesens sind
die deutschen Städte von jeher weit über den
Rahmen der gesetzlichen Mindestforderungen hin-
ausgegangen, indem sie in eifrigem Wettbewerb
durch Vervollkommnung der Schulhygiene, Er-
weiterung des wissenschaftlichen Unterrichts und
Errichtung höherer Schulen das Beste zu leisten
bestrebt waren. Die Volksschule namentlich erfuhr
nach allen Richtungen hin eine bessere Ausgestal-
tung und brachte den Städten wachsende finan-
zielle Opfer. Der Aufwand der 110 preußischen
Städte mit mehr als 25.000 Einwohnern betrug
z. B. für das Volksschulwesen im Jahr 1885:
30972125 Al, 1905 dagegen 107770.004 M.
Diese gewaltige Steigerung ist nicht nur auf die
Zunahme der Bevölkerung und der Volksschul-
kinder, sondern hauptsächlich auf die größeren
Ausgaben zurückzuführen, welche heute für jeden
einzelnen Schüler gemacht werden. Der Durch-
schnittssatz pro Kopf des Schülers belief sich z. B. in
Berlin im Jahr 1885 aus 54,88 „M, 1905 dagegen
auf 94.91 4# in Frankfurt a. M. gar auf 84,24 M
und 135 Ak. In ähnlicher Weise haben sich die
Aufwendungen auch bei den mittleren und kleineren
Städten entwickelt. Man kann wohl ohne Über-
treibung behaupten, daß das Volksschulwesen in
den deutschen Städten am vollkommensten aus-
gebaut ist. Beim Bau der Schulhäuser wird auf
die Forderungen der modernen Schultechnik und
Hygiene in weitgehendem Maß Rücksicht genom-
men. Schulbäder, Schulgärten, Haushaltungs-,
Handfertigkeits= und Handarbeitsunterricht, Oilfs-
schulen für Schwachbegabte und Ferienkolonien
sind Einrichtungen, welchen wir heute in den Volks-
schulen der meisten größeren Städte begegnen.
In einzelnen Städten (Mannheim, Karlsruhe)
wird sogar in den oberen Klassen noch fremd-
sprachlicher Unterricht (Französisch und Englisch)