Der Zar
im Kreml
416 DIE HEILIGE MISSION
mit Ferdinand von Walter in „Kabale und Liebe“ zu reden, mit dem
ganzen Stolz seines Englands. Frieden, führte er aus, sei eine speziell
englische Politik. England sei keine angriffslustige Macht, denn es gebe
nichts, was es wünschen könne. Aber andererseits gebe es kein Land, das
so gut für den Krieg vorbereitet wäre. Was England wünsche, sei lediglich,
das gewaltige Reich, das es aufgebaut habe und das ebenso durch Sym-
pathie wie durch Macht existiere, aufrechtzuerhalten. England würde nie
einen Krieg führen außer für eine gerechte Sache. Seine Hilfsquellen seien
unerschöpflich. Ließe es sich auf einen Feldzug ein, so würde es die Waffen
nicht eher niederlegen, als bis Gerechtigkeit geübt worden wäre. Die Rede
des englischen Premierministers atmete vom ersten bis zum letzten Wort
jenen Geist des Imperialismus, des spezifisch englischen Nationalismus,
dessen Vater Benjamin Disraeli war, der Enkel eines aus Venedigin England
eingewanderten Juden.
Noch einen Tag später hielt Kaiser Alexander II. an die Vertreter des
Adels und der Stadtgemeinde in Moskau eine Ansprache, aus der die Selbst-
herrlichkeit des Autokraten sprach. Beim Beginn dieser Rede erteilte er den
Serben und Montenegrinern Zensuren, den Montenegrinern eine gute, den
Serben eine schlechte. Die Montenegriner hätten sich in dem ungleichen
Kampf ‚‚wie immer“ als wahre Helden bewährt. Von den Serben könne er
„leider“ nicht dasselbe sagen. Trotzdem hätten viele russische Freiwillige
in den serbischen Reihen für die slawische Sache ihr Blut vergossen. Der
Zar wisse, daß mit ihm ganz Rußland den lebhaftesten Anteil an den Leiden
der Glaubens- und Stammesgenossen nehme, aber für den Monarchen seien
„die wahren Interessen Rußlands““ am teuersten. Er wünsche „bis aufs
Äußerste“ russisches Blut zu schonen. Wenn es den Mächten aber nicht
gelänge, von der Pforte Garantien für eine tatsächliche Verbesserung der
Lage der Christen im Orient zu erlangen, so habe er die feste Absicht,
selbständig zu handeln. Er sei überzeugt, daß in diesem Falle ganz Rußland
seinem Rufe Folge leisten werde. Er sei auch davon überzeugt, daß Moskau
wie immer mit gutem Beispiel vorangehen werde. „Gott helfe uns, unsere
heilige Mission durchzuführen!“ Zehn Jahre später hat mir der Direktor
im russischen Auswärtigen Amt, Baron Jomini, der mit Gortschakow den
Zaren nach Moskau begleitet hatte, über diese kaiserliche Rede nachstehen-
des erzählt. Der Kaiser sei in friedlicher Stimmung nach Moskau gefahren
und habe, als er sich in den Kreml begab, seinem Kanzler, dem Fürsten
Gortschakow, der im Eisenbahnwagen zurückblieb, versprochen, wenn
überhaupt, „tres-sagement“ zu reden, „sans aucune imprudence“. Der An-
blick des begeisterten Moskauer Adels, die großen Erinnerungen des Kreml
und die ganze Stimmung im Mütterchen Moskau hätten aber den Zaren
überwältigt, und die Folge sei diese unvorsichtige Rede gewesen. Ein