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beigebracht oder angetreten, kann dasselbe bei Bemessung der Hülfsbedürftigkeit überhaupt nicht in
Betracht kommen. Die der Berufungsschrift beigefügte uneidliche Erklärung des Maklers P., deren
Inhalt durch den Kläger auf Grund der Aussage des D. bestritten wird, ist für beweisfähig nicht
zu erachten; jedenfalls war die öffentliche Armenpflege verpflichtet, vorläufig im Interesse der Familie
zu interveniren, und konnte der vorläufig unterstützende Armenverband es dem definitiv Ver-
pflichteten überlassen, den Hülfsbedürftigen zur Erstattung der ihm gewährten Unterstützung zu ver-
anlassen, wenn derselbe berelts zur Zeit der gewährten Unterstützung ein Vermögen besaß, welches
für das Rückforderungsrecht des Verpflichteten ein Objekt darbot, das angegriffen werden konnte,
ohne die Hülfsbedürftigkeit des Unterstützten in einem auf den verpflichteten Armenverband zurück-
fallenden Maße zu erhöhen.
Die Frage, ob ein Geisteskranker, welcher vorübergehend öffentliche Unterstützung empfangen hat, wegen der
Unheilbarkeit seines Leidens ohne Weiteres als dauernd hülfsbedürftig anzusehen und von dem heimathlichen
Armenverbande zu übernehmen sei, ist vom Bundesamte in Sachen Plagwitz wider Unterschönau durch
Erkenntniß vom 18. Mal 1874 verneint worden.
Gründet:
Die Ehefrau des Handarbeiters J. aus Unterschönau, Kreis Schmalkalden, welcher jetzt in
Plagwitz bei Leipzig wohnt, ist vom 20. Mal bis 3. August und wiederum vom 26. September bis
26. Oktober 1873 im Irrenhause zu Leipzig auf Kosten des Klägers verpflegt worden. Sie hat
Heilung in der Anstalt nicht gefunden, ihr Zustand ist vielmehr nach einer vom Verklagten nicht
bestrittenen Erklärung des Anstaltsarztes unheilbar; indessen ist es nach Beschaffenheit ihres Leidens
nicht unzulässig erschienen, die Kranke ihrem Ehemann zurückzugeben.
Verklagter ist als Armenverband des Unterstützungswohnsitzes von der Hessischen Deputation
für das Heimathwesen verurtheilt worden, die liquidirten Verpflegungskosten, soweit sie nicht frei-
willig erstattet waren, dem Kläger zu ersetzen und hat sich bei dieser Entscheidung beruhigt. Den
weiteren Antrag des Klägers auf Uebernahme der angeblich dauernd hülfsbedürftigen J 'schen Ehe-
leute hat aber die erste Instanz zurückgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers war das erstinstanzliche Erkenntniß zu bestätigen.
Nach dem eigenen Vortrage des Klägers steht fest, daß die verehelichte J. seit dem 26. Oktober
1873 nicht mehr öffentliche Unterstützung empfängt, sondern, wenn auch nicht geheilt, sich bei ihrem
Ehemanne befindet, welcher sie erhält und verpflegt, ohne bis jetzt wieder die Armenpflege in An-
spruch genommen zu haben. Das Bedürfniß öffentlicher Unterstützung, welches zum Eintreten des
klagenden Armenverbandes Veranlassung gab, war also ein nur vorübergehendes, welches den Kläger
zur Ausweisung der J.'schen Eheleute nicht berechtigt und den Verklagten zu deren Uebernahme
nicht verpflichtet (§. 5 des Freizügigkeitsgesetzes vom 1. November 1867 und §. 31 des Reichs-
gesetzes vom 6. Juni 1870). Durch die Thatsache allein, daß J. wegen seiner Mittellosigkeit nicht
im Stande gewesen ist. die aufgelaufenen Verpflegungskosten zu bezahlen, auf welche Kläger Gewicht
legt, wird die Annahme einer dauernden Hülfsbedürftigkeit ebensowenig begründet, als durch die
Möglichkeit einer wiederholten Inanspruchnahme der Armenpflege für die unheilbar Kranke, welche
als einfache Möglichkeit eine Beschränkung der Freizügigkeit vorläufig nicht rechtfertigt. Der Ueber-
nahmeanspruch würde nur begründet erscheinen, wenn die J.' schen Eheleute laufende Armenunter-
stützung bezögen, oder doch die voraussichtliche Nothwendigkeit regelmäßig wiederkehrender Unter-
stützung in kurzen Zwischenräumen bescheinigt wäre.