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jedoch die Wahrheit derjenigen Klagebehauptungen, welche auf den Eintritt der Erkrankung und
Hilfsbedürftigkeit in Weimar, resp. während des Dienstverhältnisses, sowie auf die Versagung der
nachgesuchten Aufnahme in das dortige Krankenhaus, Bezug haben und hält durch die von ihm
vorgelegten Auslassungen des Krankenhausarztes Dr. V., ingleichen des Expedienten K. den Beweis
des Gegentheils für erbracht. Daß S. um Aufnahme in das Krankenhaus am 22. Oktober 1873
nachgesucht hat, wird vom Verklagten nicht in Abrede gestellt, indessen behauptet, S. habe die
behufs gehöriger Konstatirung seines Krankseins ihm aufgegebene Beibringung eines Physikat-
zeugnisses versäumt und dadurch, wie auch durch seine Entfernung von Weimar, den dortigen
Armenverband außer Stand gesetzt, die etwa erforderliche Krankenpflege zu gewähren. Allein auch
abgesehen davon, findet Verklagter den Klageanspruch rechtlich nicht begründet, da der Armen-
verband des Dienstortes, selbst wenn er sich der Pflicht zur Gewährung der Krankenpflege entzogen
habe, zur Erstattung auswärtiger Kurkosten nach §§. 29, 30 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870
nicht herangezogen werden könne. Eventuell wird vom Verklagten auch die Höhe des Verpflegungs-
satzes von 10 Sgr. täglich, welcher der klägerischen Liquidation zu Grunde gelegt ist, angefochten.
Der erste Richter hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Er interpretirt die allegirten
Gesetzesbestimmungen im Sinne des Verklagten. Jedenfalls falle aber dem Armenverbande des
Dienstortes der Ersatz auswärtiger Kurkosten nur dann zur Last, wenn er nach §. 29 cit. die
Pflicht gehabt habe, einem am Dienstorte Erkrankten die erforderliche Verpflegung selbst zu ge-
währen. Diese Voraussetzung liege hier nicht vor. Verklagter sei berechtigt gewesen, vor Gewäh-
rung der nachgesuchten Krankenpflege deren Nothwendigkeit festzustellen und könne nicht dafür
verantwortlich gemacht werden, daß sich S. vor erfolgter Feststellung von Weimar entfernt, und
das ihm angeforderte physikatärztliche Zeugnis nicht beigebracht habe. Im Gegentheil gehe aus
den Umständen des Falles hervor, daß S. am 22. Oktober noch nicht so krank gewesen sei, um
seine sofortige Aufnahme in das Krankenhaus nothwendig erscheinen zu lassen.
Kläger hat diese Entscheidung fristzeitig durch das Rechtsmittel der Berufung angefochten
und beantragt, den Verklagten nach dem Klageantrage zu verurtheilen. Das Rechtsmittel ist
begründet.
Die im §. 29 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 dem Armenverbande des Dienstortes
auferlegte Verbindlichkeit, die Kosten der Krankenpflege in den ersten sechs Wochen zu tragen, ge-
staltet sich zu einer Beschränkung des Ersatzanspruches, wenn der Armenverband des Dienstortes
hilfsbedürftig am Orte erkrankte Gesellen ect. kraft der ihm nach §§. 28, 29 1. c. obliegenden Ver-
pflichtung selbst verpflegt. Diesen regelmäßigen Fall hat das Gesetz im Auge, indem es dem
Dienstorte einfach die Befugniß abspricht, Ersatz für eine sechswöchentliche Zeitdauer der Kranken-
pflege zu fordern. Damit ist indessen nicht ausgeschlossen, daß die gedachte Verbindlichkeit unter
anderen Umständen als Erstattungspflicht zur Geltung gebracht werden kann. So wie §. 30 des
Reichsgesetzes ganz allgemein die dem Dienstorte „zur Last fallenden Kosten“ der Krankenpflege
von der Erstattung durch andere Armenverbände ausnimmt, so liegt es auch im Sinne des §. 29,
dem Armenverbande des Dienstortes die Kosten einer sechs Wochen nicht übersteigenden Kranken-
pflege stets zur Last zu legen, sobald die Hilfsbedürftigkeit am Dienstorte erkennbar geworden und
damit an den Dienstort die gesetzliche Pflicht zur Fürsorge herangetreten ist, ohne Unterschied, ob
er dieser Fürsorge pflichtmäßig sich unterzogen, oder durch ungerechtfertigte- Ablehnung einen ande-
ten Armenverband in die Nothwendigkeit versetzt hat, sich des hilfsbedürftigen Kranken anzunehmen.
Denn das Gesetz kar jedenfalls nicht dem Armenverbande, der seine Pflicht zu eigener Unter-
stützung unerfüllt läßt, eine Last abnehmen wollen, welche ihn bei pflichtmäßigem Verhalten ge-
troffen haben würde.
Aus den ermittelten Umständen des Falles hat nun das Bundesamt die Ueberzeugung ge-
wonnen, daß Verklagter zur Fürsorge für den hilfsbedürftigen Zimmergesellen S. verpflichtet war,
und sich dieser Verpflichtung ohne hinreichenden Grund entzogen hat.
Nach seiner am 8. November 1873 erstatteten Aussage war S. bereits mehrere Tage
krank, bevor er am 22. Oktober 1873 seine Heilung in der städtischen Krankenanstalt zu
Weimar, zunächst bei dem Arzte derselben, und dann im Polizei-Büreau nachsuchte. Die
Glaubwürdigkeit dieser Aussage wird dadurch nicht ausgehoben, daß der Krankenhausarzt Dr. V.,
so viel sich derselbe erinnert, erhebliche Krankheitserscheinungen, welche die Nothwendigkeit der
Aufnahme in das Krankenhaus begründeten, damals nicht wahrgenommen hat. Waren solche
Krankheitserscheinungen am 22. Oktober, wirklich noch nicht zu Tage getreten, so liefert dies