Metadata: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Turnstaat und Turnlieder. 389 
germanische Bär wieder brummend aus, die jungen Männer setzten ihren 
Stolz darein, den Weibern unausstehlich zu erscheinen. Auch hinter der 
gerühmten teutonischen Wahrhaftigkeit verbarg sich viel Selbstbetrug; der 
biderbe Ton war eine Mode wie andere auch, die Roheit oft ebenso er— 
künstelt wie bei anderen Nationen die Höflichkeit. Unter dem Terroris— 
mus deutschtümelnder Kraftworte und Kraftsitten verkümmerte, was den 
Kern alles deutschen Wesens bildet, die stolze Freiheit der persönlichen 
Eigenart. Die gespreizte Unnatur dieses bewußten und gewollten Ber— 
serkertums bewies nur, daß die menschlich heitere Tugend der Athener 
dem deutschen Geiste näher steht als die gemütlose Sittenstrenge der 
Spartaner. 
Das Wunderlichste blieb doch, daß diese neue, das ganze Vaterland 
mit ihren Träumen umfassende Deutschheit sofort in den unausrottbaren 
alten kleinstädtischen Zunftgeist zurückfiel und gleich damit begann eine 
streng geschlossene Sekte mit eigenem Brauch und eigener Sprache zu bil— 
den. Hier war der Turnstaat, das Turnleben, das Turnbekenntnis, hier 
allein blühte die wahre Freiheit und Gleichheit: 
So hegen wir ein freies Reich, 
An Rang und Stand sind alle gleich. 
Freies Reich! Alles gleich! Heisa juchhe! 
In den Turnliedern erklingen nur selten die hellen Töne unbefangener 
jugendlicher Fröhlichkeit; die meisten der jungen Poeten werfen sich in 
Fechterstellung, fahren herausfordernd, drohend, scheltend auf die Feinde der 
löblichen Turnkunst los: „rührt's auch den Aar, wenn ihn verlacht ein Sper— 
ling auf dem Mist?“ Und wie töricht nährte Jahn selber diesen Sekten— 
geist. Wer dem geweihten Kreise fern blieb war ein Meindeutscher, ein Sie— 
männlein, ein Zwingherrnknecht und wurde von den Zunftgenossen ganz 
wie ein Bönhase mit der gröbsten Unduldsamkeit behandelt. In seinem 
siebenten Turngesetze befahl Jahn geradezu: jeder Turner solle ihm sogleich 
eine Anzeige machen, wenn er etwas erführe, „was für und wider die 
Turnkunst derselben Freund und Feind sprechen, schreiben oder wirken, 
damit zu seiner Zeit und an seinem Orte aller solcher Kunden mit Glimpf 
oder Schimpf könne gedacht werden!“ So wuchs allmählich in aller Un— 
schuld ein kleiner Staat im Staate empor; die harmlose Turnerei nahm 
vieles von den Unarten des politischen Parteifanatismus an, und manches 
ängstliche Gemüt fühlte sich durch das Puritanertum der deutschen Lang— 
haare an die englischen Rundköpfe erinnert oder verglich die teutonischen 
Sanskravatten gar mit den Sansculotten der Revolution. 
An den Torheiten der Jugend sind die Erwachsenen immer mit— 
schuldig. Die Anmaßung des jungen Volks wäre nie so hoch gestiegen, 
wenn nicht die Alten das kindische Spiel in Lob und Tadel mit einer 
Überschätzung behandelt hätten, die uns heute im Gedränge unserer ernsten 
Parteikämpfe schon unbegreiflich vorkommt. Das öffentliche Leben in Preußen
	        
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