Volksverhetzung an. Mittelparteiliche Blätter verlangten ein neues
Kartell, die Freisinnigen und die äußerste Rechte waren aus ent-
gegengesetzten Gründen scharf dagegen, jene, weil es eine Narr-
heit sei, die Gegensätze zwischen Fortschritt und Reaktion zu ver-
tuschen statt durchzukämpfen, diese, weil sie stets Gegner des
Kartells waren und mehr insgeheim als offen das Heil von
einem Konflikt mit Beseitigung des allgemeinen gleichen Wahl-
rechts erwarteten.
Ein guter Mensch aber schlechter Psychologe hatte in der
Wiener Politischen Korrespondenz geschrieben, daß die sozialistische
Krankheit der Heilung entgegenreife, und daß der Reichskanzler
Graf Caprivi gegenüber dem leidenschaftlichen Rufe nach Aus-
nahmegesetzen den Mut der Kaltblütigkeit bewahre. Hohn und
Spott war die Antwort aus allen Lagern, wo die Rückkehr zu den
1890 verlassenen Bahnen der gewaltsamen Unterdrückung der Sozial-
demokratie gefordert wurde. Etwas praktischer faßte Griesemann,
der mit seiner scharf polemischen Feder von der Konservativen
Korrespondenz zur Norddeutschen Allgemeinen Zeitung übergegan-
gen war, die Frage eines neuen Sozialistengesetzes an. Als Voraus-
setzung für eine wirksame Gegenarbeit gegen die revolutionären
Tendenzen bezeichnete er, daß sich der Stachel des Gewissens gegen
die spystematisch betriebene Annörgelung der Regierung — ein Stich
gegen die Agrarier — wieder rege und die gegenwärtige Zerflossen-
heit und innere Zerrüttung der bürgerlichen Parteien aufhöre. Die
Hamburger Nachrichten und ihr Gefolge blieben jedoch dabei, daß
der Mut der Kaltblütigkeit nur Mangel an Entschlossenheit be-
deute.
In den Regierungskreisen war man ziemlich ratlos. Zuerst
tauchte der Gedanke auf, es mit einer Verschärfung des preußischen
Vereinsgesetzes zu versuchen. Das Reich hatte damals von seiner
Zuständigkeit, das Vereins= und Versammlungerecht einheitlich für
alle Bundesstaaten zu ordnen, noch keinen Gebrauch gemacht. Dann
wurde eine Verschärfung des Strafrechts ins Auge g faßt, nament-
lich um das öffentliche Anpreisen von gemeingefährlichen Ver-
gehen und Beschimpfungen von Religion, Monarchie, Familie, Ehe
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