Das auf dem Gothaer Versöhnungskongreß (1875) beschlossene
Einigungsprogramm enthielt noch einige Lassallesche Gedanken, der
freie Staat und die sozialistische Gesellschaft sollten mit allen
gesetzlichen Mitteln im nationalen Rahmen erstrebt und das eherne
Lohngesetz durch Errichtung von sozialistischen Produktivgenossen-
schaften mit Staatsmitteln zerbrochen werden. Marr war empört
darüber, daß in dem Programm immer noch der Staat und der
nationale Rahmen mit den gesetzlichen Mitteln vorkamen. In einem
für die Führer der Eisenacher bestimmten Brief, der bis zur Zeit
des Erfurter Parteitages (1891) geheim blieb, warf er dem „ver-
pesteten und demoralisierenden“ Kompromißwerke „hohle Phrasen,
Borniertheit und Flegelei““ vor. Die weitere Entwicklung hat aber
gelehrt, daß die Schüler klügere Praktiker als der theoretisierende
Meister waren. Was sie damals anstrebten, die innige Vereini-
gung beider Strömungen in der deutschen Arbeiterwelt, das ist
ihnen vollständig gelungen. Der Parteivorstand durfte sich in der
Rechtfertigung, die er gegen die Veröffentlichung der Marrschen
Kritik 1891 erließ, mit gutem Grunde darauf berufen, daß das
Programm keine demoralisierende Wirkung im Sinne von Marr
gehabt habe, und daß erst noch eine fünfzehnjährige Entwicklung
notwendig gewesen war, um die Gesamtheit der Partei auf die
theoretische Höhe von Marx zu heben, der wissenscheaftlich allerdings
nach seinem Briefe von 1875 in den meisten wesentlichen Punkten
recht behalten müsse.
Das Erfurter Programm beruhte in den Hauptpunkten auf
einem Entwurf, den Engels aus London eingeschickt hatte. Darin
wurden die Schlacken der früheren Programme, wie nationaler
Rahmen und Produktivgenossenschaften, hinweggeräumt. Auch der
Staat kam in keinerlei Gestalt mehr vor. Der Vergleich des
Erfurter Programms mit seinen deutschen Vorläufern beweist, daß
sich die sozialdemokratische Lehre nirgends über ihren Ursprung er-
hoben hat, sondern im Gegenteil auf ihn, in rückläufiger Bewe-
gung, nach mancherl.i Kurven und Abirrungen, allmählich zurück-
gegangen ist, eine eigentümliche Entwicklung, nicht vorwärts und
Neues bildend, sondern rückwärts in immer mehr geläuterter An-
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