Pflicht zu wohlwollender Neutralität (gegenüber Rußland) und
der Pflicht zur Waffenhilfe (gegenüber dem verbündeten Donau—
reiche) entstehen konnte. Dabei fragt es sich noch, ob die Ham—
burger Nachrichten, wie allgemein angenommen wird, den Inhalt
der deutsch-russischen Abmachungen vollständig angegeben haben.
Ist das wirklich der Fall? Von der Beantwortung dieser
Frage hängt wesentlich das Urteil darüber ab, ob der Verzicht
auf die Erneuerung des Vertrags eine kaum begreifliche Torbeit
war oder ob er sich rechtfertigen läßt. Für die Verneinung der
Frage spricht folgendes:
Zunächst muß das Verhalten der deutschen Regierung nach
der Hamburger Enthüllung auffallen. Der Reichsanzeiger spricht
von strengem Staatsgeheimnis und Verletzung der Reichsinteressen.
Hohenlohe erklärt im Reichstage, er könne nach sorgfältigster Prü-
fung des vorhandenen Materials nicht umhin, die Gründe, welche
damals die deutsche Politik leiteten, als vollwichtig anzuerkennen.
Marschall stellt vorsichtige Betrachtungen darüber an, ob die Rücck-
versicherung die Versicherung stärke und ob wir bei einem Konflikt
zwischen Österreich-Ungarn und Nußland nicht in die schwierige
Lage kommen könnten, entscheiden zu müssen, wer der Angreifer
und wer der Angegriffene sei. Woher kam dieses Winden und
Drehen, wenn sich die Abmachungen auf die einfache Neutralitäts-
formel beschränkten?
Ferner die Zeugnisse der Nächstbeteiligten. Caprivi, der das
System der Doppelversicherung „zu kompliziert“ fand, zu Hohen—
lohe: „Das Bekanntwerden des russisch- deutschen Vertrags würde
den Dreibund gesprengt haben. In dem Abkommen war Rußland
freie Hand in Bulgarien und Konstantinopel garantiert gegen die
russische Verpflichtung, in einem deutsch-französischen Kriege neutral
zu bleiben.“ Geheimrat v. Holstein, der spiritus rector bei dem
Verzicht: „Wenn's herauskommt, sind wir als falsche Kerle bla-
miert“ (Harden, Köpfe I, S. 1000. Delbrück (Bismarcks Erbe,
S. 158) gibt als Grund der Nichterneuerung an, daß einer der
Teilnehmer, vermutlich Holstein, gesagt habe, man sei nicht sicher,
ob nicht der Altreichskanzler bei seinem Temperament das Ge-
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